Der Knochenjäger
ungew. Knoten
Vorliebe für »Alles«
Nannte ein Opfer »Hanna«
Grundkenntnisse Deutsch
Dobyns trat unverhofft einen Schritt vor und tippte auf die Tabelle. »Hanna. Was hat es mit Hanna auf sich?«
»Amelia?« sagte Rhyme.
Sie berichtete Dobyns, daß der Unbekannte Monelle mit Hanna angesprochen hatte, ohne daß es dafür eine Erklärung gab. »Sie sagt, es sei ihr so vorgekommen, als gefiele ihm der Name. Und er hat sie auf deutsch angeredet.«
»Und bei ihr ist er ein ganz schönes Risiko eingegangen«, stellte Dobyns fest. »Das Taxi am Flughafen - das war für ihn doch eine relativ sichere Sache. Aber sich im Waschraum zu verstecken... da muß er schon ganz versessen auf eine Deutsche gewesen sein.«
Dobyns wickelte eine widerspenstige Haarsträhne um den Zeigefinger, fläzte sich in einen knarrenden Rattansessel und streckte die Beine aus.
»Na schön, wie war's denn damit: Das Unterirdische... das ist der Schlüssel. Es verrät mir, daß es sich um jemanden handelt, der etwas verbergen möchte, und wenn ich so was höre, fällt mir sofort Hysterie ein.«
»Er verhält sich aber nicht hysterisch«, sagte Sellitto. »Er ist verdammt ruhig und ziemlich berechnend.«
»Keine Hysterie im herkömmlichen Sinn. Es handelt sich um eine psychische Störung. Sie tritt auf, wenn ein Patient ein traumatisches Erlebnis hatte und dieses Trauma unbewußt auf etwas anderes überträgt. Im Grunde genommen handelt es sich um einen Versuch, sich zu schützen. Eine derartige Hysterie wird für gewöhnlich von körperlichen Beschwerden begleitet - Übelkeit, Schmerzen, Lähmungserscheinungen. Ich glaube, daß wir es mit einem ähnlich gelagerten Problem zu tun haben, aber nicht auf körperlicher Ebene. Mit Dissoziation bezeichnen wir einen Zustand, bei dem sich das Trauma auf die Psyche auswirkt, nicht auf den Körper. Hysterische Amnesie zum Beispiel, Fugne, multiple Persönlichkeitsstörung.«
»Wie bei Dr. Jekyll und Mr. Hyde?« Diesmal spielte Cooper den Stichwortgeber und stahl Banks die Pointe.
»Nun ja, ich glaube nicht, daß es sich tatsächlich um eine multiple Persönlichkeitsstörung handelt«, fuhr Dobyns fort. »So etwas kommt ausgesprochen selten vor, und die typische multiple Persönlichkeit ist relativ jung und hat einen niedrigeren IQ als euer Knabe.« Er deutete mit dem Kopf auf die Tabelle. »Der ist schlau und gerissen. Eindeutig ein organisierter Täter.« Dobyns blickte einen Moment lang aus dem Fenster. »Das ist interessant, Lincoln. Ich glaube, dein Unbekannter legt sich seine andere Persönlichkeit zu, wenn es ihm paßt - wenn er morden will -, und das ist wichtig.«
»Warum?«
»Aus zwei Gründen. Erstens verrät es uns etwas über seine Hauptpersönlichkeit. Es handelt sich um jemanden, der dazu ausgebildet wurde - vielleicht von Berufs wegen, vielleicht aufgrund seiner Erziehung -, anderen Menschen zu helfen, nicht aber, ihnen Schaden zuzufügen. Ein Priester, ein Anwalt, ein Politiker, ein Sozialarbeiter. Und zweitens bedeutete das meiner Meinung nach, daß er ein Verhaltensmuster für sich gefunden hat. Wenn du feststellen kannst, was das ist, hast du möglicherweise einen Anhaltspunkt, der dich zu ihm führt.«
»Was für ein Verhaltensmuster?«
»Möglicherweise wollte er schon seit langem morden. Aber er hat so lange gewartet, bis er eine passende Rollenvorgabe für sich gefunden hatte. Möglicherweise aus einem Buch oder einem Film. Oder durch jemanden, den er kennt. Es handelt sich um eine Persönlichkeit, mit der er sich identifizieren kann, jemand, der selbst straffällig geworden ist und dessen Taten ihm die Rechtfertigung dafür liefern, selbst zu morden. Nun wage ich mich aber sehr weit vor -«
»Weiter«, sagte Rhyme. »Weiter.«
»Seine Obsession für das historische New York verrät mir, daß es sich bei dieser Persönlichkeit um eine Gestalt aus der Vergangenheit handelt.«
»Jemand, der tatsächlich gelebt hat?«
»Das kann ich nicht sagen. Möglicherweise eine fiktive Gestalt, vielleicht auch nicht. Hanna, wer immer das auch sein mag, spielt in dieser Geschichte eine Rolle. Deutschland ebenfalls. Beziehungsweise Amerikaner deutscher Abstammung.«
»Irgendeine Ahnung, wodurch das in seinem Fall ausgelöst worden sein könnte?«
»Freud war der Ansicht, daß so etwas durch - was sonst? - einen Triebkonflikt während der ödipalen Phase ausgelöst wird. Heutzutage hat man sich darauf geeinigt, daß Entwicklungsstörungen nur eine Ursache liefern - jedes
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