Der Knochenjäger
Trauma kann so etwas auslösen. Und es muß sich keinesfalls um einen einmaligen Vorfall handeln. Es könnte eine dauernde psychische Belastung sein, eine Abfolge persönlicher oder beruflicher Enttäuschungen. Schwer zu sagen.« Mit funkelnden Augen blickte er auf das Täterprofil. »Aber ich hoffe, daß du ihn lebend schnappst, Lincoln. Den hätte ich zu gern ein paar Stunden bei mir auf der Couch.«
»Thom, schreibst du das auf?«
»Ja, Bwana.«
»Aber eine Frage noch«, setzte Rhyme an.
Dobyns wirbelte herum. »Ich würde sagen, die Frage schlechthin, Lincoln. Warum hinterläßt er die Hinweise? Richtig?«
»Genau. Warum die Hinweise?«
»Denk mal darüber nach, was er getan hat... Er spricht mit dir. Er hinterläßt keine wirren Bekennerbriefe wie der Son of Sam oder der Zodiac-Killer. Er ist nicht schizophren. Er kommuniziert - in deiner Sprache. Der Sprache der forensischen Wissenschaft, der Kriminalistik. Warum?« Wieder ging er auf und ab, warf gelegentlich einen Blick auf die Tabelle. »Dazu fällt mir lediglich ein, daß er möglicherweise einen Teil der Schuld abwälzen möchte. Schau, das Morden fällt ihm schwer. Es wird leichter, wenn er uns zu Komplizen macht. Wenn wir die Opfer nicht rechtzeitig retten, trifft uns eine Teilschuld an ihrem Tod.«
»Aber das ist gut, nicht wahr?« fragte Rhyme. »Es heißt, daß er uns weitere Hinweise liefern wird, die wir deuten können. Wenn das Rätsel zu schwer wäre, könnte er die Verantwortung ja nicht abwälzen.«
»Nun ja, das stimmt«, sagte Dobyns, der jetzt nicht mehr lächelte. »Aber es spielt auch noch ein anderer Faktor mit.«
Sellitto lieferte die Antwort. »Bei Serientätern kann es leicht zu einer Eskalation kommen.«
»Richtig«, bestätigte Dobyns.
»Wie soll er das denn schaffen?« murmelte Banks. »Reicht es nicht, wenn er alle drei Stunden zuschlägt?«
»Oh, er wird eine Möglichkeit finden«, fuhr der Psychologe fort. »Höchstwahrscheinlich wird er sich mehrere Opfer gleichzeitig suchen.« Der Psychologe kniff die Augen zusammen. »Sag mal, ist alles in Ordnung mir dir, Lincoln?«
Schweißtropfen standen auf der Stirn des Kriminalisten, und er hatte mehrmals angestrengt geblinzelt. »Bloß müde. Allerhand Aufregung für einen alten Krüppel.«
»Eins noch. Bei Serienverbrechen spielt das Opferprofil eine entscheidende Rolle. Aber in diesem Fall haben wir es mit Opfern beiderlei Geschlechts, unterschiedlichen Alters und sozialer Herkunft zu tun. Alle weiß, aber da er sich in einem überwiegend weißen Umfeld betätigt, hat das statistisch keine Aussagekraft. Anhand dessen, was wir bislang wissen, läßt sich nicht feststellen, warum er sich gerade diese Personen ausgesucht hat. Wenn du das schaffst, bist du ihm möglicherweise einen Schritt voraus.«
»Danke, Terry«, sagte Rhyme. »Bleib noch ein bißchen hier.«
»Klar, Lincoln. Wenn du möchtest.«
»Werfen wir einen Blick auf die Spuren vom letzten Tatort«, befahl Rhyme. »Was haben wir da? Die Unterwäsche?«
Mel Cooper sortierte die Tüten, die Sachs vom Tatort mitgebracht hatte. Er betrachtete die, in der sich die Unterwäsche befand. »Modell D'Amore von Katrina Fashion«, gab er bekannt. »Hundert Prozent Baumwolle, Gummizug. Das Material wurde in den USA hergestellt. Zugeschnitten und genäht in Taiwan.«
»Das können Sie alles vom bloßen Hinschauen feststellen?« fragte Sachs ungläubig.
»Nee, ich hab's gelesen«, sagte er und deutete auf das Etikett.
»Oh.«
Die anderen Cops lachten.
»Will er uns mitteilen, daß er noch eine Frau hat?« fragte Sachs.
»Möglicherweise«, sagte Rhyme.
Cooper öffnete die Beweismitteltüte. »Keine Ahnung, um welche Flüssigkeit es sich handelt. Ich mache eine Gaschromatographie.«
Rhyme bat Thom, den Papierfetzen mit den Mondphasen hochzuhalten. Er betrachtete ihn eingehend. Ein derartiger Fetzen war eine wunderbar individuelle Spur. Man konnte ihn in das Blatt einpassen, von dem er abgerissen worden war, und dadurch einen Bezug herstellen, der genauso eindeutig war wie ein Fingerabdruck. Der Haken dabei war natürlich, daß sie den Papierbogen, von dem er stammte, nicht hatten. Er fragte sich, ob sie ihn jemals finden würden. Der Täter könnte ihn vernichtet haben, nachdem er diesen Schnipsel abgerissen hatte. Doch Lincoln Rhyme zog es vor, nicht davon auszugehen. Er stellte sich lieber vor, daß er noch irgendwo war. Nur darauf wartete, gefunden zu werden. So, wie er sich die Spurenverursacher stets vorstellte:
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