Der Knochenjäger
Dann sagte Cooper: »Ich packe schon mal ein.« Er hievte einen schwarzen Mikroskopkoffer auf den Tisch und schraubte liebevoll wie ein Musiker, der sein Saxophon zerlegt, ein Okular ab.
»Tja, Thom«, sagte Rhyme, »die Sonne ist untergegangen. Weißt du, was das bedeutet? Die Bar ist geöffnet.«
Die Einsatzzentrale war beeindruckend. Sie übertraf Lincoln Rhymes Schlafzimmer um Längen.
Eine halbe Etage des Bundesverwaltungsgebäudes, drei Dutzend Agenten, dazu Computer, jede Menge Schalttafeln und elektronische Geräte. Die Agenten sahen aus wie Anwälte oder Banker. Weiße Hemden, Krawatten. Flott war das Wort, das einem dazu einfiel. Und mittendrin Amelia Sachs mit ihrer auffälligen marineblauen Uniform, voller Rattenblut, Staub und zerbröseltem, hundert Jahre altem Kuhmist.
Sie zitterte nicht mehr, und obwohl ihr noch immer hunderterlei Dinge durch den Kopf gingen, die sie Rhyme sagen wollte - die sie ihm hätte sagen sollen -, zwang sie sich dazu, sich auf das Geschehen rundum zu konzentrieren.
Ein hochaufgeschossener Agent in einem tadellosen grauen Anzug besprach sich mit Dellray - zwei große Männer, die Köpfe gesenkt, ernsthaft bei der Sache. Ihrer Ansicht nach handelte es sich um Thomas Perkins, den Leiter des FBI-Büros von Manhattan, aber sie wußte es nicht genau; als Streifenpolizistin kam man mit dem FBI nicht öfter in Berührung als eine Putzmamsel oder ein Versicherungsvertreter. Er wirkte humorlos, aber tüchtig, und schaute fortwährend auf einen großen, an die Wand gehefteten Stadtplan von Manhattan. Perkins nickte mehrmals, während Dellray ihm Bericht erstattete, trat dann an einen mit braunen Aktenmappen übersäten Preßspantisch, ließ den Blick über die Agenten schweifen und ergriff das Wort.
»Wenn Sie mir bitte Ihre Aufmerksamkeit schenken würden ... Ich habe soeben mit dem Direktor und dem Justizminister in Washington gesprochen. Sie haben inzwischen sicher von dem Straftäter gehört, der am Kennedy Airport zugeschlagen hat. Wir haben es hier mit einem ungewöhnlichen Fall zu tun. Entführer, die nicht aus sexuellen Beweggründen handeln, werden für gewöhnlich nur selten als Serientäter aktiv. Genaugenommen handelt es sich hier um den ersten Täter dieser Art, mit dem wir es im Süddistrikt zu tun haben.
In Anbetracht der Tatsache, daß diese Taten möglicherweise in Zusammenhang mit den UN-Veranstaltungen stehen, die diese Woche stattfinden, arbeiten wir eng mit der Zentrale, Quantico und dem UN-Generalsekretariat zusammen. Man hat uns aufgetragen, in diesem Fall unbedingt vorbeugend tätig zu werden. Man gewährt uns höchste Dringlichkeitsstufe.«
Der Special Agent in Charge oder SAC, der das FBI-Büro Manhattan leitete, blickte zu Dellray, worauf dieser das Wort ergriff. »Wir haben den Fall von der New Yorker Polizei übernommen, werden aber von ihr personell und anderweitig unterstützt. Die zuständige Kollegin vom Streifendienst ist hier und wird uns über die Tatorte Bericht erstatten.« Dellray klang hier völlig anders. Ganz und gar nicht mehr wie eine Mischung aus Stenz und schwarzem Straßendealer.
»Haben Sie die Registrierkarten für die Beweismittel ausgefüllt?«
Sachs mußte zugeben, daß dies noch nicht geschehen war. »Wir waren mit der Rettung der Opfer beschäftigt.«
Der SAC war darüber beunruhigt. Es kam immer wieder vor, daß ansonsten hieb- und stichfeste Fälle vor Gericht platzten, weil der genaue Verbleib der jeweiligen Spuren und Beweismittel auf dem Dienstweg nicht vollständig belegt war. Auf so etwas stürzten sich die Verteidiger eines Beschuldigten zuallererst.
»Sehen Sie zu, daß Sie das erledigen, bevor Sie gehen.«
»Ja, Sir.«
Was für ein Gesicht Rhyme gezogen hatte, als ihm aufging, daß sie bei Eckert gepetzt und sie damit aus dem Verkehr gezogen hatte!
Miss Sachs ist darauf gekommen. Meine Mitarbeiterin hat den Tatort gesichert.
Sie zupfte wieder an einem Nagel. Hör auf, befahl sie sich, wie immer, und pulte weiter an der Haut herum. Der Schmerz tat gut. Davon hatten die Therapeuten keine Ahnung.
»Agent Dellray«, sagte Perkins, »könnten Sie den Anwesenden mitteilen, wie wir vorzugehen gedenken?«
Dellray ließ den Blick vom SAC zu den anderen Agenten schweifen und übernahm. »In diesem Moment gehen unsere Agenten im Außendienst gegen jede bekannte terroristische Gruppierung in der Stadt vor und verfolgen sämtliche verfügbaren Spuren, die uns einen Hinweis auf den Verbleib des Täters geben könnten.
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