Der Knochenjäger
heranwinkte. Er konnte gerade noch ausweichen. Der Mann sprang zurück, und das Taxi blieb mit quietschenden Reifen unmittelbar vor ihm stehen.
Der Mann öffnete die hintere Tür und beugte sich herein. »Sie sollten lieber nach vorne gucken.« Es klang belehrend, keineswegs aufgebracht.
»'tschuldigung«, murmelte der Knochensammler zerknirscht.
Der Mann zögerte einen Moment, schaute die Straße entlang, sah aber kein anderes Taxi. Er stieg ein.
Schlug die Tür zu.
Alt und dürr, dachte der Knochensammler. Die Haut müßte wie Seide über die Knochen gleiten.
»Wohin soll's gehen?« rief er.
»Zur East Side.«
»Wird gemacht«, sagte er, zog die Skimaske über und schlug das Lenkrad scharf nach rechts ein. Das Taxi entfernte sich in Richtung Westen.
3
DIE TOCHTER DES
STREIFENPOLIZISTEN
Umstoßen, umstoßen, umstoßen! Das ist die Maxime von New York ... Nicht einmal die Gebeine unserer Vorfahren dürfen ein Vierteljahrhundert in Frieden ruhen, und die eine Generation scheint geflissentlich sämtliche Hinterlassenschaften jener tilgen zu wollen, die vor ihnen da waren.
Philip Hone, Bürgermeister von New York, Tagebuch, 1845
Samstag, 22.15 Uhr, bis Sonntag, 5.30 Uhr
ACHTZEHN
»Gib mir noch einen, Lon.«
Rhyme trank mittels eines Strohhalms, Sellitto aus dem Glas. Beide genossen den rauchigen Whisky pur. Der Detective ließ sich in den knarrenden Rattansessel sinken, und Rhyme stellte fest, daß er ein wenig wie Peter Lorre in Casablanca aussah.
Terry Dobyns war gegangen - nachdem er ein paar bittere psychologische Kommentare über Narzißmus und das Verhalten von FBI-Angestellten abgegeben hatte. Jerry Banks war ebenfalls aufgebrochen. Mel Cooper war immer noch dabei, seine Geräte zu zerlegen und sorgfältig wieder einzupacken.
»Der ist gut, Lincoln.« Sellitto trank einen Schluck Scotch. »Gott. Dieses Zeug kann ich mir nicht leisten. Wie alt ist der?«
»Zwanzig Jahre, glaube ich.«
Der Detective betrachtete den goldbraunen Whisky »Verdammt, wenn das eine Frau wäre, war's ein Vollweib mit allem, was dazugehört.«
»Verrat mir eins, Lon: Was hatte es bloß mit Pollings Koller auf sich?«
»Der kleine Jimmy?« Sellitto lachte. »Der steckt jetzt in der Bredouille. Er war derjenige, der sich dafür eingesetzt hat, daß Peretti von dem Fall abgezogen wird und das FBI ihn nicht in die Hände bekommt. Der steht jetzt echt im Regen. Hat auch nach dir verlangt, und das hat einiges gekostet. Ein paar Leute haben sich dabei echt übergangen gefühlt. Das hat jetzt nichts mit dir persönlich zu tun, sondern damit, daß ein Zivilist zu so 'nem heißen Fall zugezogen wird.« »Polling hat nach mir verlangt? Ich dachte, es war der Chef.«
»Stimmt schon, aber Polling hat ihm diesen Floh ins Ohr gesetzt. Er hat angerufen, sobald er gehört hat, daß es eine Entführung gab und daß man am Tatort getürkte Spuren gefunden hat.«
Und er wollte ihn haben? Rhyme wunderte sich. Das war merkwürdig. Rhyme hatte in den letzten Jahren keinerlei Kontakt zu Polling gehabt, hatte ihn seit den Ermittlungen wegen der Polizistenmorde, in deren Verlauf Rhyme verunglückt war, nicht mehr gesehen. Polling war es gewesen, der den Fall bearbeitet und Dan Shepherd schließlich festgenommen hatte.
»Scheint dich zu überraschen«, sagte Sellitto.
»Daß er nach mir verlangt hat? Tut es auch. Wir hatten nicht gerade das beste Verhältnis zueinander. Früher jedenfalls nicht.«
»Wie das?«
»Ich habe ein 14-43 gegen ihn eingereicht.«
Das offizielle Beschwerdeformular der New Yorker Polizei.
»Vor fünf, sechs Jahren. Er war damals Lieutenant, und ich habe ihn dabei ertappt, wie er einen Verdächtigen an einem gesicherten Tatort vernommen hat. Hat die Spuren gefährdet. Mir ist der Gaul durchgegangen. Habe Meldung gemacht, und in seiner internen Beurteilung ist auf den Vorfall verwiesen worden - als er seinerzeit einen unbewaffneten Verdächtigen umgelegt hat.«
»Nun ja, ich nehme an, das ist alles vergeben und vergessen, denn er wollte dich unbedingt dabeihaben.«
»Lon, würdest du einen Anruf für mich erledigen?«
»Klar.«
»Nein«, sagte Thom und nahm dem Detective das Telefon aus der Hand. »Er soll es selber machen.«
»Ich hatte noch keine Zeit, mich damit zu befassen«, sagte Rhyme und deutete mit dem Kopf auf die elektronische Wählhilfevorrichtung, die Thom tagsüber angeschlossen hatte.
»Du hast dir keine Zeit dafür genommen. Großer Unterschied. Wen willst du anrufen?«
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