Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
Knoxville, rief ich Steve an und schlug ihm eine ungewöhnliche Ménage à trois vor: Ob er sich wohl mit mir und Sheilah Anderson für ein Wochenende in eine abgeschiedene Hütte zurückziehen wolle? Er sagte sofort zu, und wir verabredeten uns im Montgomery Bell State Park.
Der Park liegt auf halbem Weg zwischen meinem Institut in Knoxville und Steves Leichenhaus im 700 Kilometer entfernten Memphis. Sanfte, von Eichen und Hickorybäumen bewachsene Hügel gruppieren sich um einen hübschen kleinen See, in dem es anscheinend von Fischen wimmelt (auf einem Schild am Wasser steht: 15-Inch Size Limit for Bass - Größenbeschränkung für Barsche: 38 Zentimeter). Auf einer Halbinsel erhebt sich ein sechsstöckiges Hotel; an einen Hügel schmiegen sich ein halbes Dutzend Hütten, und unsere war einfach großartig. Die Fenster ließen viel Licht auf den Esstisch fallen, und dort legten wir nun die verbrannten Knochenbruchstücke von Sheilah Anderson aus. Mordermittlungen mit guter Aussicht.
Sheilah war auf eine so komplizierte, rätselhafte Weise zerlegt worden, wie Steve und ich es noch nie erlebt hatten. Nach den Brüchen der Arm- und Beinknochen zu urteilen, waren die Gliedmaßen mit roher Gewalt abgetrennt worden. Becken, Rippen und Wirbelsäule dagegen hatte man anscheinend mit irgendeinem ungeheuer scharfen Instrument zerschnitten.
Steve wunderte sich wie ich sofort über das unterschiedliche Ausmaß der Verbrennung. Die Knochen, die man 1993 in dem Vorgarten geborgen hatte, waren viel stärker verbrannt als jene, die kurz danach hinter dem Haus aufgetaucht waren, und als die dritte Gruppe, welche die Straßenarbeiter 1994 entdeckt hatten. Steve kam auf die Idee, die Verbrennung könne in zwei Stufen stattgefunden haben: In den Flammen, die der Feuerwehrmann im Juni 1993 gesehen hatte, war nach seiner Hypothese die vollständige Leiche verbrannt worden. Als dieses Feuer seinen Zweck nicht erfüllte, wurden der Schädel und andere Teile abgetrennt und weggeworfen - manche hinter dem Haus, andere am Straßenrand -, und die übrigen wurden, dieses Mal gründlicher, noch einmal im Vorgarten angezündet.
An den Knochen der zuerst gefundenen Gruppe hatte das Feuer sämtliche Schnittspuren vernichtet; an den leicht oder gar nicht verbrannten Skelettteilen dagegen waren noch unversehrte Spuren zu erkennen, die Steve untersuchen konnte. Im Gegensatz zu vielen anderen Fällen mit zerlegten Leichen trugen die Knochen hier praktisch keine Anzeichen für fehlgeschlagene Versuche, zögerndes Vorgehen oder abgebrochene Schnitte. Die Werkzeugspuren wiesen vielmehr darauf hin, dass jemand die Knochen beherzt und kräftig in einem Zug durchtrennt hatte. Die Schnitte waren nicht durch Sägen, sondern durch Hackbewegungen entstanden und mit so viel Kraft geführt worden, dass die Knochen nach dem ersten Schlag durchtrennt waren. Die Klinge war so scharf gewesen, dass sie an manchen Stellen dünne Knochenstücke abgeschält hatte - beispielsweise eine Scheibe von einem Wirbelkörper -, aber gleichzeitig war sie auch so schwer, dass sie selbst große Strukturen wie Hüft- und Oberschenkelknochen sofort zertrümmerte.
Steve und ich standen vor einem Rätsel. Auch die Schnittflächen der Knochen trugen seltsame Spuren. Sie zeigten, dass es eine gebogene Klinge gewesen war, aber das allein war nichts Seltsames - viele weit verbreitete Gartengeräte haben gebogene Klingen. Aber um was für ein Instrument es sich auch handeln mochte, seine Klinge hatte eine engere Biegung als jede Axt oder Schaufel, die wir kannten. Wäre die Biegung der Schneide ein Teil eines vollständigen Kreises gewesen, hätte dieser einen Durchmesser von noch nicht einmal acht Zentimetern gehabt. Da zum Durchtrennen der Knochen große Kraft erforderlich ist, fragten wir uns, ob wohl ein Gerät zum Graben von Pfahllöchern mit dem ganzen Gewicht eines Menschen darauf niedergesaust war, aber auch solche Grabgeräte sind nicht derart stark gebogen.
Den ganzen Samstagmorgen und noch den halben Nachmittag untersuchten wir wieder und wieder die Schnittspuren, wobei wir immer neue Gerätschaften als Zerlegewerkzeug in Erwägung zogen und wieder verwarfen. Am späten Nachmittag schließlich klopfte es an der Hüttentür. Als ich sie öffnete, sah ich einem Parkranger ins Gesicht. Au wei , dachte ich, jetzt gibt es Ärger . Ich versuchte, dem Ranger mit meinem Körper den Blick auf den Esstisch mit den ausgebreiteten Knochen zu verstellen.
Der Besuch des Rangers bedeutete
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