Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
tatsächlich Ärger, aber nicht weil wir die Hütte als forensisches Labor benutzten. Er erklärte, für mich sei ein Anruf aus Knoxville gekommen, und es habe sich dringend angehört. Ich ließ Steve mit den Knochen allein und eilte zu dem Hotel. Die Anruferin war Dot Weaver, eine Bekannte, die meine 95-jährige Mutter pflegte. Ich rief zurück, und sie berichtete, meine Mutter habe gerade mehrere kleine Schlaganfälle erlitten und sei ins Krankenhaus gebracht worden.
Ich ging wieder zu Steve und sagte, wir müssten unsere Arbeiten abkürzen. Er erwiderte, er könne mir ohnehin nicht mehr viel Neues erzählen. Wir warfen einen letzten Blick auf die zerstörten Überreste von Sheilah Anderson und hofften, dass die Staatsanwältin Janice Rundles sich nicht allein auf unsere mageren Befunde stützen musste, um Anklage gegen Jim Anderson zu erheben. Glücklicherweise war das tatsächlich nicht nötig: Kurz bevor der Fall vor Gericht gebracht werden sollte, bekannte sich Anderson - einst einer der besten Polizisten von New York - des Mordes an seiner Frau für schuldig. Kurz darauf kam er ins Gefängnis. Dort nahm er einen Wärter als Geisel, hielt ihn mehrere Stunden lang fest und verprügelte ihn heftig. Vielleicht erzählt er uns eines Tages, womit er die Leiche seiner Frau zerhackt hat.
Mein Wochenendausflug mit Steve brachte nicht das zufrieden stellende Ergebnis, auf das wir gehofft hatten. Aber das ist nun einmal der Lauf der Dinge: Man kann sich nur die Indizien ansehen und zuhören, was die Knochen zu sagen haben. Sie erzählen uns nicht immer die ganze Geschichte, aber wenn sie es tun, ist diese Geschichte vielfach entsetzlich und faszinierend zugleich.
Das erlebte Steve hautnah mit einem Mordopfer namens Leslie Mahaffey …
Ich lernte Steve vor einem Vierteljahrhundert in der Wildnis des westlichen South Dakota kennen. Damals war er ein magerer 24-jähriger mit einem frischen Examen in Anthropologie; nach dem Studium hatte er eine Stelle bei Bob Alex angenommen, dem amtlichen Archäologen von South Dakota, in dessen Auftrag er Knochen katalogisierte. Steves Hauptaufgabe war das Sortieren und eine Bestandsaufnahme vieler tausend Knochen von Sioux- und Arikara-Indianern, die der autodidaktisch gebildete Archäologe W. H. Over Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer riesigen Sammlung zusammengetragen hatte.
Bei einer der ersten großen Heimführungsaktionen der Überreste amerikanischer Ureinwohner veranlasste Bob Alex die Behörden von South Dakota, die Over-Sammlung zur Bestattung an die Sioux und Arikara zurückzugeben. Aber bevor er die Knochen aus der Hand gab, fragte er mich, ob ich sie für einige Zeit untersuchen wolle.
Die Sammlung war in einem alten Militärkrankenhaus nordwestlich von Rapid City untergebracht. Im Spätfrühling 1978 traf ich mit einem Ford-Kombiwagen aus Knoxville ein, im Schlepptau einen gemieteten Anhänger, mit dem ich die Sammlung nach Tennessee bringen wollte. Vor meiner Ankunft hatte Steve unter hohem Zeitdruck sein Verzeichnis fertig gestellt und die Knochen in Kisten verpackt. Auf seinem Schreibtisch sah ich ein aufgeschlagenes, zerlesenes Exemplar meines Knochenhandbuches Human Osteology: A Laboratory and Field Manual . (Seit 1971, als das Buch zum ersten Mal erschien, hat es 23 Auflagen erlebt und wurde ungefähr 75 000 Mal verkauft; damit, das muss ich voller Stolz sagen, wurde es zu einem Lehrbuch-Bestseller.)
Wir schüttelten uns die Hände. »Ich sehe, Sie lesen mein Buch«, sagte ich.
»Nun ja, ich habe es auch mit anderen versucht«, erwiderte er, »aber Ihres ist das Einzige, das einem auch in schwierigen Fällen bei der Identifizierung von Knochen hilft.<
Er war ganz offensichtlich ein besonders intelligenter junger Mann. Vielleicht sogar ein Genie.
Zehn Minuten nachdem ich Steve kennen gelernt hatte, war mir klar - und zwar nicht nur weil mir sein Kommentar schmeichelte -, dass er das Zeug zu einem hervorragenden Anthropologen hatte. Er wusste viel und war neugierig, aber auch reif, diszipliniert und beharrlich, eine Kombination, die bei angehenden Professoren nicht so häufig ist, wie man annehmen könnte. Im Gegensatz zu vielen heutigen Studenten hatte er nicht das romantische Bild der Anthropologie aus Fernsehserien und Hollywoodfilmen im Kopf. Er wusste, dass das Fach eine Menge harte Arbeit erforderte, und schien bereit zu sein, sich die Finger schmutzig zu machen. Bis wir den Anhänger beladen hatten, hatte ich Steve zur
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