Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
sogar das Dach durch die intensive Hitze in sich zusammengebrochen war.
Vor meinem geistigen Auge wehte noch eine andere rote Fahne in dem frischen Wind über dem zerstörten Suburban. Angeblich war Rutherford von der Autobahn abgekommen, in einen Graben gefahren und so heftig gegen die Straßenböschung geprallt, dass der Wagen Feuer fing. Aber am Vorderende des Wagens waren so gut wie keine Schäden zu erkennen, und nach Aussagen von Gibson, der den Unfallschauplatz besichtigt hatte, war die Straßenbefestigung an der Aufprallstelle nur geringfügig angekratzt oder beschädigt. Kurz gesagt, es sah so aus, als hätte jemand von dieser Unfallstelle gesund und munter zu Fuß weggehen - oder wegradeln - können.
Aber zurück zu dem forensischen Labor in der Innenstadt von Monterrey. Dort lagen die Knochen, und die besagten eindeutig, dass irgendjemand, vermutlich Madison Rutherford, sich nicht zu Fuß vom Inferno im Auto entfernt hatte.
Das gerichtsmedizinische Zentrum von Monterrey war eine nagelneue, blitzsaubere Einrichtung, größer und eindrucksvoller als das Regional Forensic Center, das man kürzlich zu Hause in Knoxville als Erweiterung des Klinikums der University of Tennessee errichtet hatte. Als John Gibson und ich dort ankamen, nahm uns eine kleine Delegation der Stadtverwaltung von Monterrey und der mexikanischen Regierung in Empfang. Da alle außer mir Spanisch sprachen, wusste ich nicht genau, was das alles für Leute waren, aber Gibson beherrscht die Sprache fließend, und deshalb stand ich schon bald in einem Labor und konnte an die Arbeit gehen. Dr. Jose Garza, ein Mitarbeiter des medizinischen Sachverständigen, brachte mir die Knochen, Zähne und einen weiteren Gegenstand, den sie aus dem Suburban geborgen hatten. Alles, was von dem kräftig gebauten Mann übrig geblieben war, hatten sie zusammengefegt und in rund einem halben Dutzend kleiner Plastikbeutel luftdicht verschlossen.
Wie nicht anders zu erwarten, waren die Knochen in den Beuteln zum größten Teil kalziniert, das heißt, ihre organische Substanz war vollständig verbrannt. Die kalzinierten Bruchstücke waren leicht, kalkartig und von einem körnigen Grau - genau wie ich es nach einem heftigen Brand erwartet hatte. Dagegen sah der medizinische Notfallanhänger, den man in dem Auto gefunden hatte - er bestand aus Edelstahl mit einem eingelegten Äskulapstab aus rotem Email - erstaunlich unbeschädigt aus. Und erstaunlich unbenutzt: Die Schließe stand offen.
Ein Brand, der kalzinierte Knochen hinterlässt, zerstört auch das gesamte genetische Material. Aus solchen Funden kann man also keine DNA-Proben mehr gewinnen und zur Identifizierung verwenden. Hier waren zwar die meisten Knochen kalziniert, aber nicht alle. Das Schädelbruchstück zum Beispiel, das ich gefunden hatte, würde mit Sicherheit genügend DNA für eine Analyse liefern, und das Gleiche galt auch für mindestens einen der vier Zähne, die der medizinische Sachverständige geborgen hatte. Durch einen Vergleich dieser DNA mit Proben von Madison Rutherfords Eltern, die beide noch am Leben waren, konnten wir fast mit absoluter Sicherheit feststellen, ob es sich hier um die verbrannten Knochen von Rutherford handelte. Allerdings hatten wir ein Problem. Nach Gibsons Aussage hatten Rutherfords Eltern keine Probe zur Verfügung gestellt.
Ich habe drei Söhne. Wenn einer von ihnen vermutlich tot wäre, würde ich genau wissen wollen, ob es sich bei einer aufgefundenen Leiche tatsächlich um ihn handelt. Ungeachtet der Trauer, die eine eindeutige Identifizierung mit sich bringt, kann ich mir nicht vorstellen, dass Eltern auf diese Gewissheit verzichten. Das Fehlen der DNA-Vergleichsproben war eine weitere rote Fahne. Mittlerweile wehten über diesem Fall mehr rote Fahnen als bei einer chinesischen Militärparade.
Wenn wir zur Identifizierung der verbrannten Leiche nicht die moderne DNA-Analyse einsetzen konnten, mussten wir auf die altmodische physische Anthropologie zurückgreifen: Ich musste die wahre Geschichte aus den Knochen herauslesen. Als ich mit der Rekonstruktion des Schädels begann, wurde es plötzlich richtig spannend. Ich hatte damit gerechnet, dass die Schädelnähte sich im Prozess der Verschmelzung befanden, insbesondere an der Innenfläche, wo die Verknöcherung zuerst einsetzt. Sie hätten als dunkle, geschlängelte Linien deutlich sichtbar sein müssen. Stattdessen waren die Nähte fast völlig verknöchert und nur durch schwache, kaum wahrnehmbare
Weitere Kostenlose Bücher