Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
Leisten aus weichem Knochengewebe getrennt, wie Tapetenbahnen, deren Nähte mit Farbe überstrichen wurden. Andere Fragmente stammten von kräftigen Knochen mit stark entwickelten Muskel-Ansatzstellen und Anzeichen für eine umfangreiche Arthritis.
»Rutherford war 34, haben Sie gesagt?«, fragte ich Gibson. Er nickte.
Vom Bodenblech des Wagens hatte man vier Zähne geborgen: drei Schneidezähne und einen zweiten Molaren. Keiner davon hatte eine Füllung. Das zumindest stimmte mit den zahnärztlichen Unterlagen von Rutherford überein. Aber die beiden oberen Schneidezähne hatten große, ungefüllte Löcher - nicht gerade das, was man bei einem wohlhabenden Finanzberater erwarten würde. Der Molare war stark abgenutzt, fast wie die Zähne, die ich aus prähistorischen Gräbern kannte - aber deren Besitzer hatten sich ihr ganzes Leben lang von Getreide ernährt, das sie auf Steinmühlen gemahlen hatten und das dann auch ihre Zähne allmählich abgeschliffen hatte. Darüber hinaus waren an den Schneidezähnen zwei weitere auffällige Merkmale zu erkennen. Sie waren schaufelförmig, quadratisch und flach, und auf der Innenseite trugen sie eine U-förmige Rille; und die abgenutzten Kanten wiesen auf einen altbekannten Gebissfehler hin.
Ich rief Gibson zu mir und zeigte ihm die Zähne. »Sehen Sie, wie abgenutzt die sind?«, fragte ich. »So etwas bezeichnet man als ›Okklusionsverschleiß‹. Es entsteht, weil die Zähne aufeinander schlagen und sich aneinander reiben. In diesem Fall haben die Kanten der oberen Zähne fast genau auf denen der unteren gestanden; das nennt man ›Zangenbiss‹. Eine solche Bissanomalie gibt es bei Menschen europäischer Abstammung nicht.«
»Wo denn?«, fragte er.
»Bei Personen mit mongolischer Herkunft. Asiaten, Eskimos, amerikanische Ureinwohner.«
Gibson starrte mich an. »Sie wollen sagen, das hier ist...?«
Jetzt passten die Puzzlesteine - die abgenutzten Zähne und die kaum erkennbaren Schädelnähte - zusammen, und daraus ergab sich ein Bild, das nicht Madison Rutherford zeigte. »Das ist kein 34-jähriger Aktienmakler aus Connecticut«, sagte ich zu Gibson. »Das ist ein 50- oder 60-jähriger mexikanischer Arbeiter.«
Von der Identifizierung dieser verbrannten Knochen hing eine Menge Geld ab. Die Lebensversicherung bei Kemper Life war erst ein halbes Jahr vor dem »Unfall« abgeschlossen worden, und dabei hatte Rutherford der Versicherung mitgeteilt, er werde seinen Vertrag bei dem Konkurrenzunternehmen CNA kündigen. In Wirklichkeit erhöhte er auch dort seine Versicherungssumme auf mehr als das Doppelte.
Mittlerweile war klar, dass Rutherford weder bei einem Unfall gestorben noch kaltblütig ermordet worden war. Er hatte seinen Tod absichtlich vorgetäuscht. Das tragische Ereignis war eine raffiniert eingefädelte Fälschung, ein Sieben-Millionen-Dollar-Betrug. Auf Grund meiner Befunde weigerte sich Kemper Life, die vier Millionen Dollar an Rutherfords »Witwe« Rhynie auszuzahlen. In der diplomatischen, formellen Sprache der Versicherungsbranche lautete die Begründung: »Der Verstorbene war nicht der Versicherungsnehmer.«
Rhynie verklagte Kemper; auch gegen CNA, die ebenfalls die Zahlung von drei Millionen Dollar ablehnte, strengte sie einen Prozess an. Die forensischen Befunde gaben den Versicherungsunternehmen eindeutig Recht. Auf der anderen Seite stand jedoch eine Frau, die von den mexikanischen Behörden einen Totenschein erhalten hatte; sie hatte einen Teil der sterblichen Überreste eingeäschert und verstreut, und jetzt lebte sie in auffälliger Einsamkeit. Trotz der wissenschaftlichen Befunde bestand eine gewisse Gefahr, dass ein Geschworenengericht Rhynies Version der Geschichte glauben würde: eine Witwe mit gebrochenem Herzen, die von kaltschnäuzigen Versicherungsunternehmen übers Ohr gehauen wird. Schließlich verständigten sich beide Firmen mit ihr auf eine außergerichtliche Einigung: Kemper zahlte einen winzigen Bruchteil der Versicherungssumme, CNA einen größeren, aber immer noch bescheidenen Betrag.
Madison Rutherford dagegen - der lebende, atmende Madison Rutherford - hatte sich scheinbar in Luft aufgelöst, und das noch gründlicher, als wenn er tatsächlich zu einem Häufchen Asche verbrannt wäre. Damit, so schien es, war der Fall beendet. Jedenfalls für einige Zeit.
Ich legte meine Akte über den vorgetäuschten Tod beiseite und widmete mich wieder meiner Wirklichkeit. Wieder einmal erwuchs aus der Trauer nach Annettes
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