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Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt

Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt

Titel: Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bass Jon Jefferson
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plötzlichem Tod ganz langsam neues Glück. Für diese Wendung schulde ich meinem jüngsten Sohn Jim große Dankbarkeit. In den traurigen Monaten, nachdem Annette gestorben war, kam er irgendwann aus Atlanta zu Besuch, und ich erzählte ihm, wie einsam ich mich fühlte. Daraufhin sagte Jim ganz aus heiterem Himmel (und es war nicht als Frage, sondern als Vorschlag gemeint): »Warum heiratest du eigentlich nicht Carol Lee?« Es war eine jener Ideen, deren Klugheit auf der Hand liegt, sobald sie ausgesprochen sind - eine Idee, bei der man sagt: »Warum bin ich darauf eigentlich selbst noch nicht gekommen?«
    Carol Lee Hicks und ich waren in Virginia gemeinsam aufgewachsen. Sie war neun Jahre jünger als ich, aber wir wohnten in einer kleinen Stadt, und unsere Familien waren eng befreundet, sodass wir häufig zusammen spielten. Ich erinnere mich sogar noch an einen Tag im Juli 1944, als wir im Haus ihrer Großmutter waren: Wir spielten Verstecken und anschließend Fangen. (In Virginia suchte man sich im Jahr 1944 jede Ablenkung, die man finden konnte.) Als es Zeit zum Mittagessen war, rannten wir die Straße zur Mühle von Carols Vater hinunter, und dabei klagte sie auf einmal, dass ihre Seite und ihr Bein schmerzten. »Komm, wir sind fast da, bleib jetzt nicht stehen«, rief ich. Dann sah ich sie an, und eine Stimme in meinem Inneren ließ mich sagen: »Na gut, setzen wir uns hier kurz auf die Bank.«
    Noch am gleichen Nachmittag bekam Carol Fieber; am nächsten Tag kam Schüttelfrost hinzu. Ihr Arzt hatte gerade in einer Fachzeitschrift einen Artikel über Kinderlähmung gelesen und erkannte sehr schnell, dass Carol sich im Frühstadium der Krankheit befand. Er brachte sie sofort nach Lynchburg ins Krankenhaus und rettete ihr damit vermutlich das Leben.
    Carol ging aus eigener Kraft ins Krankenhaus; als drei Tage später das Fieber stieg, war sie bereits von der Taille abwärts gelähmt. Sieben oder acht Monate blieb sie im Krankenhaus, und erst Anfang 1945 konnte sie wieder gehen. Dabei hatte sie noch Glück.
    Heute ist die Kinderlähmung praktisch in Vergessenheit geraten, aber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war sie eine Seuche von fast biblischen Ausmaßen. Zehntausende von unschuldigen Kindern und jungen Erwachsenen fielen ihr zum Opfer, trugen dauerhafte Behinderungen oder Lähmungen davon. Die Kinderlähmung, eine besonders starke Form der Virus-Meningitis, hinterließ bei einer ganzen Generation von Amerikanern eine tiefe, unheilvolle Spur.
    Den Kampf mit der eigentlichen Krankheit gewann Carol recht schnell, aber ihr Kampf gegen die Schäden, die sie hinterlassen hatte, sollte sich lange und quälend hinziehen. Er erforderte jahrelange Physiotherapie und zwölf komplizierte Operationen. In Virginia, Atlanta und Warm Springs (Georgia), wo Präsident Franklin D. Roosevelt ein medizinisches Institut eingerichtet hatte, das anderen Opfern der Kinderlähmung helfen sollte, bemühten sich Ärzteteams um Carol: Sie transplantierten gesundes Muskelgewebe in geschwächte Gliedmaßen, streckten oder durchtrennten verkürzte Sehnen, verbanden instabile Fußwurzelknochen. Während meines Grund- und Hauptstudiums an der University of Virginia besuchte ich Carol häufig im dortigen Krankenhaus, wo sie sich mit 13 Jahren den ersten Wiederherstellungsoperationen unterzog.
    Auch in späteren Jahren blieben wir in enger Verbindung. Mit 16 war sie Brautführerin bei meiner Hochzeit mit Ann. Als sie älter wurde, heiratete sie einen jungen Mann aus der Gegend und hatte mit ihm einen Sohn namens Jeff. Später war sie in einem Sommer mit Mann und Sohn zwei Wochen in South Dakota und half, Indianergräber freizulegen. Schließlich ließ sie sich von ihrem Mann scheiden und arbeitete in einem Unternehmen mit vielen Ärzten, wo sie mit ihrer positiven Einstellung und ihrem schrägen Humor deutlich zu guter Stimmung beitrug. Wir besuchten sie jedes Mal, wenn wir nach Virginia kamen.
    Dann kam Carol auch zu uns nach Tennessee: Als es meiner Mutter gesundheitlich schlecht ging, half Carol, sie zu pflegen, und als Annette Krebs bekam, kam Carol wieder und beteiligte sich auch an ihrer Pflege. Jetzt war ich derjenige, der Fürsorge brauchte. Und dann stellte mir mein Sohn Jim, warmherzig wie er ist, diese großartige Frage: »Warum heiratest du eigentlich nicht Carol Lee?« Ich tat es. Gemeinsam mit Carol wurde das Leben wieder lebenswert.
    Carol hat eine strenge Anweisung erhalten: Sie darf unter keinen Umständen vor mir

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