Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
noch frisch war, als sie verbrannte. Damit lautet die nächste Frage: Woher hatte Rutherford eine frische Leiche? Nachdem Rhynie sich entschlossen hatte, mit den Behörden zusammenzuarbeiten, erzählte sie den Beamten, Madison sei seinem eigenen Bericht zufolge in die Leichenhalle eines Friedhofes eingedrungen und habe dort eine Leiche gestohlen. Wenn das stimmt, war es nach meiner Vermutung ein Glück, dass er nicht die sterblichen Überreste eines weißen Mannes von knapp über 30 Jahren erwischte. Ansonsten wäre er vielleicht davongekommen, und »Thomas Hamilton« würde - um sieben Millionen Dollar reicher - ein Luxusleben in einem vornehmen Bostoner Penthouse führen, statt seine Strafe in einem Bundesgefängnis abzusitzen.
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Der blutrünstige Nutznießer
W enn es von der forensischen Anthropologie abhängt, wie der Prozess um ein Kapitalverbrechen ausgeht, steht man unter ungeheuerem Druck. Einerseits besteht die Gefahr, dass man dazu beiträgt, einen Unschuldigen in die Gaskammer zu schicken, andererseits ist es aber auch durchaus möglich, dass ein brutaler Mörder auf freien Fuß gesetzt wird. Dieses große Dilemma erlebte ich vor kurzem hautnah, als ein Distriktsstaatsanwalt mich um Mitwirkung bei der Verfolgung der kaltblütigsten Morde bat, mit denen ich es jemals zu tun hatte.
Der Anruf kam im Mai 1999 von der Behörde des Distriktsanwalts in Magnolia im Bundesstaat Mississippi, dem Verwaltungssitz des Kreises Pike. In dem kleinen Nachbarort Summit hatte man eine junge Familie brutal ermordet. Der 26-jährige Mann und seine 23-jährige Frau waren jeweils mit mehreren Messerstichen getötet worden, die kleine Tochter hatte man erdrosselt und zuvor möglicherweise missbraucht. Am 16. Dezember 1993 waren die blutigen, stark verwesten Leichen in einer Hütte außerhalb der Stadt entdeckt worden. Der Strafverfolger, der mich anrief - ein Distriktsanwaltsassistent namens Bill Goodwin -, wusste bereits, dass die Familie im Herbst ermordet worden war, aber wann genau, war nicht klar. Wie lange waren die drei Menschen bereits tot, als man sie entdeckte? Das war die Viertelmillion-Dollar-Frage.
Eine genaue Abschätzung der Zeit, die seit dem Tod vergangen ist, kann einen Mordfall in der einen oder anderen Richtung entscheiden. Das hatte sich im Fall des Zoomannes auf eine Weise gezeigt, die ich nie vergessen und vielleicht nie überwinden werde. Drei der vier Opfer waren eindeutig getötet worden, als der Verdächtige, »Zoomann« Huskey, auf freiem Fuß war. Der Zeitpunkt des vierten Todesfalls jedoch - Patricia Johnson, deren Leiche nach meiner eigenen Einschätzung »für mich zu frisch« war, sodass ich sie dem medizinischen Sachverständigen übergeben hatte - wurde zum Gegenstand hitziger Diskussionen. Wenn Johnson getötet worden war, nachdem man Huskey festgenommen hatte, verfügte er zumindest für einen der vier Morde an der Cahaba Lane über ein hieb- und stichfestes Alibi, auch wenn sein eigenes Geständnis und Neal Haskells insektenkundliche Analyse das Gegenteil besagten.
Im Mai 1999 arbeitete ich bereits seit über 40 Jahren an Kriminalfällen, und ungefähr seit der Hälfte dieser Zeit erforschte ich die Verwesung. Seit 1981, als unsere Forschungsarbeiten auf der Body Farm mit Bill Rodriguez’ bahnbrechender insektenkundlicher Studie begonnen hatten, waren wir der Frage, wie ein Körper verwest, in Dutzenden von Fällen und unter sehr unterschiedlichen Bedingungen nachgegangen. Wir hatten Leichen im Wald versteckt, in den Kofferraum oder auf den Rücksitz von Autos gelegt, in flachen Gruben verscharrt oder in Wasser getaucht. Immer untersuchten und dokumentierten wir, was mit ihnen vorging, vom Augenblick des Todes bis zu der Zeit nach Wochen oder Monaten, wenn außer Knochen nichts mehr übrig war. Wir hielten die Vorgänge und den zeitlichen Ablauf bei der Verwesung eines Menschen fest und bauten so eine Datenbank für verschiedene Zeiträume seit dem Tod auf - die erste und einzige dieser Art auf der ganzen Welt. Mit den vielen Daten verfolgte ich ein ganz einfaches Ziel: Wenn ein echtes Mordopfer unter beliebigen Bedingungen und in einem beliebigen Verwesungszustand gefunden wurde, wollte ich der Polizei eine wissenschaftlich begründete Auskunft darüber geben können, wann der betreffende Mensch getötet worden war.
Mittlerweile hatten meine Doktoranden und ich auf der Body Farm die Verwesung von mehr als 300 Leichen beobachtet. Als nun Bill Goodwin anrief und mich in einem Fall um
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