Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
Hilfe bat, in dem der Todeszeitpunkt von entscheidender Bedeutung war, erwiderte ich ziemlich selbstsicher: »Ich glaube, ich kann Ihnen helfen.«
Was dann folgte, erschütterte mein Selbstvertrauen und stellte meine Glaubwürdigkeit in Frage. Die Vorgänge im Gerichtssaal waren selbst für mich eine Überraschung.
Die erwachsenen Opfer in diesem Mordfall hießen Darryl und Annie Perry. Ihre Tochter, erst vier Jahre alt, trug den Namen Krystal. Dass es in diesem Fall erst sechs Jahre nach den Morden zum Prozess kam, war für mich ein eindeutiges Zeichen, dass es sich um eine schwierige Angelegenheit handelte.
Die Polizei hatte einen Verdächtigen identifiziert und angeklagt; hier lag das Problem also nicht. Verschiedene indirekte Indizien brachten ihn mit dem Verbrechen in Verbindung, und er hatte sogar ein plausibles Motiv. Aber man konnte ihm den Mord nicht durch hieb- und stichfeste, unwiderlegliche Befunde beweisen: keine rauchende Pistole, kein verschmutztes Messer, keine blutigen Fingerabdrücke, keine Augenzeugenberichte. Außerdem hatte er für zwei volle Wochen vor dem Zeitpunkt, als die Leichen gefunden wurden, ein gutes Alibi. Das war der Grund, warum die Frage nach dem Todeszeitpunkt im Prozess von entscheidender Bedeutung sein würde: Wenn die Verteidigung die Geschworenen davon überzeugen konnte, dass die Familie irgendwann während dieser zwei Wochen noch am Leben war, mussten sie den Verdächtigen freisprechen.
Soweit man wusste, hatte es für den Mord außer dem Täter nur drei Zeugen gegeben: die Getöteten. Ich musste die Wahrheit von der Familie Perry selbst erfahren. Aber wie? Als ich angerufen wurde, waren die Leichen schon längst bestattet, und die Hütte, in der man sie gefunden hatte, war gesäubert und verkauft worden. Nur Fotos und Notizen erzählten noch die Geschichte vom Mord an dieser jungen Familie und insbesondere von dem Zeitpunkt, als er geschah. Deshalb bat ich Goodwin, mir alle verfügbaren Tatortfotos zu schicken, vor allem Detailaufnahmen von den Leichen. Als ich den Hörer auflegte, konnte ich nur hoffen, dass die Fotos mir genügend forensische Anhaltspunkte zur Lösung meiner Aufgabe liefern würden.
Zwei Tage später brachte UPS die Abzüge, und ich riss sofort den Umschlag auf. Wenig später war mir klar, dass meine Rechnung nicht aufgehen würde. Und wenn mir das auffiel, konnte ich ziemlich sicher sein, dass der Anwalt des Angeklagten oder zumindest seine gerichtsmedizinischen Berater es ebenfalls bemerken würden.
Eine Hälfte des forensischen Bildes war klar und eindeutig. Die Fotos zeigten die grotesk aufgedunsenen Leichen von Darryl, Annie und Krystal. Für mich war das ein vertrauter Anblick, den ich schon viele hundert Mal zuvor gesehen hatte. Als man die Leichen fand, waren Bakterien bereits fleißig dabei, die inneren Organe zu verflüssigen. Mit Magen und Darm hatten sie den Anfang gemacht, und als sie das weiche Gewebe verdauten, bliesen die dabei entstehenden Gase den Bauch der Leichen auf wie einen Ballon. Unter und neben den Toten waren dunkle, schmierige Flecken zu erkennen: flüchtige Fettsäuren, die beim Abbau der Gewebe freigesetzt wurden. Die Haare standen gerade im Begriff, sich als charakteristische, einheitliche Masse, die wir als »Haarmatte« bezeichnen, von den Köpfen zu lösen.
Die Fotos von Krystal gehörten zum Bedrückendsten, was ich jemals gesehen habe. Ihr nackter Körper ließ besonders deutlich erkennen, wie jung, wie klein, wie schutzlos sie gewesen war. Der Genitalbereich war stark verwest. Der Obduktionsbericht gab keine Auskunft darüber, ob sie sexuell missbraucht worden war, denn dazu war das weiche Gewebe bereits zu stark zerstört. So oder so war das Foto ein Bild der brutalen Gewaltanwendung.
Jeder normale Mensch würde beim Anblick solcher Bilder denken: »Du liebe Güte, was für ein entsetzlicher Anblick«, und sich dann so schnell wie möglich abwenden. Auf mich wirken sie ganz anders. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich verabscheue den Tod - ich habe zwei Ehefrauen durch Krebs verloren, und diese schrecklichen Erfahrungen haben dazu geführt, dass ich den Tod hasse und Trauerfeiern schrecklich finde. Wenn ich aber einen Verbrechensschauplatz untersuche, sehe ich darin niemals den Tod, sondern immer ausschließlich einen Fall. Alle Beobachtungen, alle Gerüche sind Informationen, mögliche Schlüssel zur Aufdeckung der Wahrheit. Einmal arbeitete ich an der Aufklärung eines Wohnungsbrandes mit, bei dem
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