Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
mehrere kleine Kinder ums Leben gekommen waren. Was mir dabei Kummer bereitete, waren nicht die verkohlten Leichen, sondern der Anblick eines Dreirades und mehrerer anderer Spielzeuge, die verstreut im Garten lagen - Erinnerungen an das Leben, das durch den Brand ausgelöscht wurde.
Auf den Fotos vom Mordfall Perry suchte ich nach abgelöster Haut, frei liegenden Knochen, ausgegangenen Haaren und Insektenbesiedelung; daraus wollte ich ablesen, wie lange die Familie schon tot war. Wie jeder Fall, so war auch dieser ein wissenschaftliches Puzzle, und ich bemühte mich darum, alle Steine zusammenzufügen. Indem ich mir buchstäblich und im übertragenen Sinn jedes einzelne Stück aus der Nähe ansah, konnte ich einen chronologischen Ablauf rekonstruieren. Gleichzeitig schützte ich mich damit vor dem Entsetzen, das von dem Gesamtbild ausging.
Aus meinen jahrzehntelangen Forschungsarbeiten auf der Body Farm wusste ich, dass die Verwesung eine immer gleiche, vorhersagbare Abfolge von Vorgängen ist. Sie wiederholt sich bei Mordfällen auf der ganzen Welt und zu allen Jahreszeiten. Unterschiede gibt es nicht - jedenfalls nicht in der Reihenfolge. Abweichungen, und zwar sehr dramatische, findet man dagegen in der Geschwindigkeit. Und der wichtigste Faktor, der sie beeinflusst, ist die Temperatur.
Einerseits sagt einem das natürlich schon der gesunde Menschenverstand: Eine warme Leiche verwest schneller als eine kalte. Meinen Studenten habe ich immer gesagt: »Das ist der Grund, warum man Fleisch in den Kühlschrank legt und nicht in den Küchenschrank.« Höhere Temperaturen beschleunigen bei der Verwesung einer Leiche die Bakterientätigkeit und begünstigen auch die Insektenbesiedelung. Wie Menschen, so veranstalten auch die Käfer ihr Picknick am liebsten im Sommer. Aber um dieses Thema von der Ebene des gesunden Menschenverstandes auf die der wissenschaftlichen Präzision zu übertragen, mussten wir jahrelang Verwesungsgeschwindigkeiten messen und dabei beobachten, wie diese Geschwindigkeit sich in Abhängigkeit von Temperatur und Luftfeuchtigkeit verändert. Am Ende hatten wir eine mathematische Formel entwickelt, die unsere Beobachtungen quantitativ erfasste. Diese Formel ermöglichte es uns in Verbindung mit den Wetterdaten vom Tatort, die Zeit seit dem Tod bei jeder nur denkbaren Temperatur zu berechnen.
Der Schlüssel war eine Maßeinheit, die wir als accumulated degree days (ADD) bezeichneten. Vereinfacht gesagt, bezeichnet sie die Gesamtheit der durchschnittlichen Tagestemperaturen. Zehn Sommertage mit einer Durchschnittstemperatur von 22 Grad würden beispielsweise insgesamt 220 ADD ergeben, genau wie zwanzig Wintertage mit einer Durchschnittstemperatur von elf Grad. Eine Leiche mit 220 ADD zeigt unabhängig von der Jahreszeit immer ähnliche Verwesungserscheinungen: Sie ist aufgebläht und durch die erweiterten, dunkelrot gefärbten Fettsäuren treten aus. Bei unseren Experimenten auf der Body Farm ermittelten wir die ADD für viele verschiedene Zeiträume vom Augenblick des Todes an und hielten jeweils fest, welcher Verwesungszustand einem bestimmten ADD-Wert entspricht. Bei forensischen Ermittlungen gingen wir dann genau umgekehrt vor: Wir verfolgten die Wetterdaten vom Tatort in die Vergangenheit, bis der ADD-Wert dem tatsächlichen Verwesungszustand der vorgefundenen Leiche entsprach.
In diesem Fall konnte ich an den Tatortfotos erkennen, dass die Leichen der Perrys sich in einem fortgeschrittenen Verwesungszustand befanden, in dem die Aufblähung nachlässt und das Gewebe endgültig abgebaut und verflüssigt wird. Nach meiner Schätzung entsprach die Verwesung der Perry-Leichen ungefähr 270 ADD. Im nächsten Schritt mussten wir nun herausfinden, welches Wetter in Mississippi während der Wochen vor dem Leichenfund geherrscht hatte.
Ich bat Bill Goodwin, mir die Temperaturwerte von Magnolia für die Monate November und Dezember zu besorgen. Die Zahlen zeigten, dass es ein recht kalter Herbst gewesen war. Zwischen Mitte November und Mitte Dezember war die Temperatur in acht Nächten bis auf den Gefrierpunkt oder darunter gesunken. Als ich den Temperaturverlauf zurückverfolgte, gelangte ich zu dem Schluss, dass die Familie bereits 25 bis 35 Tage tot war, als sie gefunden wurde.
Nur eines passte nicht ganz ins Bild: die Maden. Die Leichen waren von Maden bedeckt, den Larven der Schmeißfliegen. Während Bakterien eine Leiche von innen nach außen auffressen, beginnen die Schmeißfliegen an der
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