Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
überschrieben Ray und Clara die Firma ihrem Sohn Ray Brent. Das Geschäft brummte weiterhin: Anfang 2002 hatte das Tri-State Crematory bereits etwa 3200 Verstorbene eingeäschert. Jedenfalls glaubten das alle. Vom 15. Februar an kam dann die grauenhafte Wahrheit ans Licht.
Die Inspektoren der Umweltschutzbehörde fanden schon in den ersten Stunden mehrere Dutzend Leichen in verschiedenen Verwesungsstadien. Am nächsten Tag rief der Gouverneur von Georgia für den Kreis Walker den Notstand aus, und die Behörden äußerten die grausige Erwartung, die Zahl der Leichen könne leicht in die Hunderte gehen. In einer ersten juristischen Auseinandersetzung, auf die viele weitere folgen sollten, wurde Ray Brent Marsh festgenommen und wegen fünf in Tateinheit begangener Verbrechen des »Diebstahls durch Täuschung« angeklagt, weil er die Bezahlung für die Krematoriumsleistungen angenommen, diese aber in Wirklichkeit nicht erbracht hatte. Am folgenden Sonntag war die Zahl der aufgefundenen Leichen bereits auf 100 gestiegen, und Marsh musste sich mit weiteren Anklagepunkten auseinander setzen. Mittlerweile hatten sich Hunderte von Ermittlern auf dem Gelände des Krematoriums eingefunden, von Inspektoren der Umweltschutzbehörde und der Gesundheitsbehörde von Georgia bis zu lokalen Sheriffs, Kriminalbeamten der Staats- und Bundespolizei und Katastrophenschutzspezialisten aus Bundesbehörden und Institutionen des Bundesstaates.
Eine wenig bekannte Einrichtung für Notfälle, die zum Zuständigkeitsbereich des öffentlichen Gesundheitswesens der USA gehört, ist eine Organisation mit dem Namen D-MORT: Disaster Mortuary Operational Response Team (»Einsatzteam für Katastrophen mit Todesfolge«). Die Teams von D-MORT sind mit den verschiedensten freiwilligen Spezialisten besetzt - medizinische Sachverständige, forensische Zahnmediziner, Suchhundeführer, forensische Anthropologen, Leichenbestatter und Vertreter anderer Berufe, die in irgendeiner Form mit dem Tod zu tun haben. Solche Einsatzgruppen werden zu Schauplätzen mit vielen Toten geschickt, beispielsweise nach einem Flugzeugabsturz. (Mein Freund Art Bohanan von der Polizei in Knoxville unternahm vor mehreren Jahren auf der Body Farm ein Forschungsprojekt für D-MORT; es war Teil eines Vorhabens, wasserdichte Leichensäcke zu entwickeln. Dieses Ziel ist bis heute nicht vollständig erreicht.)
Eine seiner härtesten Bewährungsproben hatte D-MORT im April 1995 zu bestehen, als das Murrah Federal Building in Oklahoma City durch eine Autobombe zerstört wurde. Damals halfen drei meiner Doktoranden den Freiwilligen von D-MORT bei der Identifizierung von Leichen, die aus den Trümmern des Gebäudes geborgen wurden. Eine noch größere, entsetzlichere Aufgabe stellte sich jedoch für D-MORT im Gefolge der terroristischen Anschläge vom 11. September 2001. Damals riskierten Hunderte von Freiwilligen ihre Gesundheit, um am Ground Zero die Ruinen des New Yorker World Trade Center zu durchsuchen; andere Angehörige von D-MORT waren an der Bergung und Identifizierung der Toten im Pentagon beteiligt.
Als D-MORT-Mitglieder aus der südöstlichen Region fünf Monate nach dem 11. September die Kiefernwälder hinter dem Tri-State Crematory durchsuchten, machten sie wahrhaft verblüffende Entdeckungen. Am Sonntag, dem 17. Februar, erhielt Rick Snow, einer meiner Doktoranden, einen Anruf von einem Mitglied der Spezialeinheit; er wurde gebeten, sofort nach Georgia zu kommen. Rick hatte sich einige Monate zuvor als Freiwilliger bei D-MORT gemeldet und verfügt über einige besonders wichtige Qualifikationen: Er war kurz zuvor von einem Überseeeinsatz zurückgekommen, weil er beim Kriegsverbrechertribunal der Vereinten Nationen in Bosnien gearbeitet hatte. Während seines achtmonatigen Aufenthaltes im früheren Jugoslawien hatte Rick Massengräber freigelegt und bei der Identifizierung vieler tausend Zivilisten geholfen, die man im Namen der »ethnischen Säuberung« ermordet hatte. Politischer Hintergrund und Motive waren in Georgia ganz andere - hier gab es nur eine plausible Erklärung, nämlich ein Zusammentreffen von Faulheit, Nachlässigkeit und Pfennigfuchserei bei den Kosten für das Propan -, aber die Leichen und der Umfang der Arbeit ähnelten dem, was Rick auf dem Balkan erlebt hatte.
Am Montag, dem 18. Februar, traf Rick ein und half bei der Bergung und Identifizierung von Leichen. Als er in Noble das Gebiet hinter dem Zaun betrat, muss er sich gefühlt haben wie an einem
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