Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
Herzen, dass man sie nicht gefahrlos entfernen konnte. Er behielt sie weitere 27 Jahre im Körper, wo sie ihn immer an die Gefahren des Kartenspiels erinnerte, an die Flüchtigkeit des Lebens und daran, von welch großer Bedeutung zwei Zentimeter sein können, wenn es um die Beziehung zwischen einer Pistolenkugel und einem Herzen geht.
Im Frühjahr 2000 war Chigger durch die lebenslange Arbeit in der Landwirtschaft zu einem kräftigen Mann geworden, und das betraf nicht nur seine Muskeln, sondern auch die Knochen: Von den Lasten, die sie jahrein, jahraus zu tragen hatten, waren sie immer dicker und stärker geworden. Er muss fast komisch überdimensioniert gewirkt haben, wenn er Erdbeerableger pflanzte, die winzigen Pflanzen zwischen seinen kräftigen, schmutzigen Fingern und seinem breiten Daumen zerteilte. Mit seinen 44 Jahren war Chigger kein junger Mann mehr. Der Rücken tat ihm weh, und er hatte auch andere, tiefer sitzende Schmerzen. Am Abend des 17. April 2000 nahm er ein Schmerzmittel. Ich weiß nicht, wie viele Tabletten er schluckte, aber es müssen mehr als nur ein paar gewesen sein. Das Medikament tötete nicht den Schmerz, es tötete ihn.
Chigger hatte seinen Geschwistern schon früher gesagt, er wolle ebenso eingeäschert werden wie sein älterer Bruder, der ihn angeschossen hatte (nach Angaben der Familie ein Unfall) und schon 25 Jahre zuvor gestorben war. Nun beauftragte seine Schwester Suzy ein Bestattungsunternehmen aus der Gegend, alles zu arrangieren, und kaufte für seine Asche eine hübsche Urne aus Messing. Chiggers Freundin war schwanger, und Suzy wollte, dass sein Kind eines Tages die Asche sehen konnte.
Die Familie hielt für den Verstorbenen einen Trauergottesdienst ab; anschließend wurde der Tote auf einen Leichenwagen geladen und zu einem Krematorium gefahren. Der Gottesdienst und die Einäscherung kosteten 3110,59 Dollar, einschließlich knapp 800 Dollar für einen brennbaren, mit Stoffen verschlossenen Sarg. Einige Wochen später wurde eine Plastiktüte mit den eingeäscherten Resten zurückgeschickt, und ein Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens füllte sie in die Messingurne. Suzy ließ sie eine Zeit lang auf ihrem Kaminsims stehen, dann übergab sie den Behälter an Chiggers Lebensgefährtin.
22 Monate später musste die Familie entsetzt zusehen, wie sich im Fernsehen eine makabre Geschichte abspielte. Auf dem Gelände des Tri-State Crematory in Noble im Bundesstaat Georgia hatte man Leichen gefunden - nicht verbrannte, verwesende menschliche Leichen. Das war die Institution, zu der sie fast zwei Jahre zuvor auch Chigger geschickt hatten.
Der Ärger um das Tri-State Crematory kam am 15. Februar 2002 erstmals an die Öffentlichkeit. Beamte der Umweltschutzbehörde hatten einen telefonischen Tipp bekommen, und als sie daraufhin das Gelände des Krematoriums besichtigten, fanden sie auf dem Boden einen menschlichen Schädel. Der Umweltschutzbeamte rief die Polizei, und wenig später schwärmten Dutzende von Beamten der örtlichen Polizei und der Kriminalpolizei des Bundesstaates auf dem Anwesen aus. Innerhalb weniger Stunden fanden sie Dutzende Leichen, und in den grausigen Tagen danach wurden noch viele weitere entdeckt: Insgesamt waren es 339. Man hatte sie in flachen Gruben verscharrt, in metallene Grabbehälter gestopft, in dem umgebenden Wald wie Baumstämme aufgestapelt oder sogar in defekten Leichenwagen verwesen lassen.
Der Tipp, den die Behörden erhalten hatten, kam auf Umwegen von dem Lastwagenfahrer, der regelmäßig die Propantanks des Krematoriums auffüllte. Bei einer Routinelieferung hatte der Mann auf dem Anwesen menschliche Leichen gesehen. Aber anscheinend hatte er seine Neugierde (oder sein Entsetzen) nicht verbergen können, denn als er das nächste Mal kam, sagte man ihm, er solle das Gelände verlassen und sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern.
Das Tri-State Crematory war ein Familienunternehmen. Ray und Clara Marsh hatten es 1982 eröffnet, und wenig später erhielt es Aufträge aus Georgia, Alabama und Tennessee, den Bundesstaaten, deren Grenzen ungefähr 30 Kilometer nordwestlich von Noble zusammenstoßen. Es berechnete stets geringere Gebühren als andere derartige Einrichtungen, und zu seinen Dienstleistungen gehörte - anders als bei den meisten Konkurrenten - auch die Abholung der Leichen aus den Bestattungsunternehmen, mit denen es Verträge hatte. Einen oder zwei Tage später wurden dann die Überreste zurückgeliefert.
Im Jahr 1996
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