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Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt

Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt

Titel: Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bass Jon Jefferson
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Sparsamkeitsprinzip oder »Ockhams Rasiermesser« bezeichnet wird. Danach ist die einfachste Erklärung, die zu allen Tatsachen passt, in der Regel die Richtige. Im Laufe der Jahre sind mir jedoch bei Mordfällen immer wieder bizarre Wendungen begegnet, und deshalb weiß ich, dass Ockhams Rasiermesser manchmal in der falschen Richtung schneidet. Hier schien es sich jedoch zu bestätigen. Wenn es sich bei der Leiche in meinem Labor um Colonel William Shy handelte, waren viele Fragen beantwortet: Dann wussten wir, warum die Löcher in seinen Zähnen nicht gefüllt waren, warum die Kleidung nicht nur so vornehm, sondern auch so ungewöhnlich aussah, warum es keine synthetischen Fasern, keine Etiketten, keine anderen identifizierbaren Funde gab.
    Als wir die Leiche in sitzender Haltung auf dem Sarg fanden, hatte es so ausgesehen, als sei sie später in das Grab gesetzt und nicht durch ein kleines Loch im Sargdeckel gezogen worden. Wenn wir unterstellten, dass sie später hinzugekommen war, konnten wir schnell den nächsten logischen Schritt tun: Dann musste es sich um ein Mordopfer handeln, und zwar eines aus jüngster Zeit. Unsere nächste Übung im Schlussfolgern - zu erklären, warum sich im Sarg keine Leiche befand - war angesichts meiner früheren Erfahrungen mit einem Friedhof aus dem 19. Jahrhundert und den dort gefundenen winzigen Bruchstücken sehr einfach. (Clyde Stephens, der Leichenbeschauer, hatte für das Fehlen einer Leiche eine anderen Erklärung; er äußerte Zweifel daran, ob Colonel Shy überhaupt jemals in dem Sarg gelegen hatte: »Ich hätte dann wenigstens mit einer Gürtelschnalle, Uniformknöpfen oder so etwas gerechnet«, sagte er einem Journalisten aus Nashville. »Aber wir haben überhaupt nichts entdeckt.«)
    Zumindest hatten wir nichts von dem gefunden, womit wir gerechnet hatten. So peinlich es auch für alle Beteiligten war - oder zumindest für alle, die in der Presse zitiert wurden: Es sah jetzt so aus, als sei es Colonel Shy selbst, der hier vor aller Augen verborgen gewesen war. Die Leiche war kein Mordopfer aus jüngerer Zeit, das man teilweise in einen Sarg gezwängt hatte, sondern ein alter Soldat, den man zum größten Teil aus dem Sarg gezogen hatte, und bei diesem Grabräuber-Gezerre hatte er den Kopf sowie einige andere Körperteile eingebüßt. Auch der zerschmetterte Schädel war vor diesem neuen Hintergrund leicht zu erklären: Colonel Shy war ums Leben gekommen, als Truppen der Union den Hügel, auf dem die 20. Infanterie von Tennessee Zuflucht gesucht hatte, umzingelten und einnahmen. Der Colonel fiel im harten Kampf Mann gegen Mann durch einen Schuss mit einer Kugel vom Kaliber.58, die ihn aus kürzester Entfernung in die Stirn traf.
    Mittlerweile war die Geschichte von einem Kriminalbericht in der Lokalpresse zu einer Meldung im unpolitischen Teil des weltweiten Pressedienstes von Associated Press geworden: Ein geheimnisvoller Leichnam stellt die Polizei vor ein Rätsel; diese zieht einen angesehenen Wissenschaftler hinzu; der Wissenschaftler begeht einen spektakulären Irrtum; und der alte Soldat lacht zuletzt. Nach den Briefen und Telefonanrufen zu urteilen, die bei mir eingingen, wurde die Geschichte von Zeitungen auf der ganzen Welt aufgegriffen. Ein früherer Student schickte mir sogar eine Kopie aus einer englischsprachigen Zeitung in Bangkok.
    Wenige Wochen später wurde Colonel Shy in seinem Grab wieder zur Ruhe gebettet. Ein örtliches Bestattungsunternehmen stiftete einen neuen Sarg, und ein Regiment von mehr als 100 uniformierten Bürgerkriegs-Traditionalisten bereitete ihm eine Bestattung mit allen militärischen Ehren. Als der Geistliche mit seiner Grabrede zu Ende war, blitzte es, der Donner rollte, und Hagel prasselte auf die Versammelten nieder - genau wie es historischen Berichten zufolge 113 Jahre zuvor bei der ersten Bestattung des Offiziers gewesen war! Dieses Mal konnte der Soldat der Konföderierten vielleicht in Frieden ruhen.
    Ich dagegen fand keine Ruhe. Nachdem wir den Leichnam als Colonel Shy identifiziert hatten, waren zwar mehrere Fragen beantwortet, aber eine neue, große Frage stellte sich: Wie konnte ich mit meiner Schätzung des Todeszeitpunktes um den gewaltigen Zeitraum von fast 113 Jahren daneben liegen?
    Wie sich herausstellte, gab es auf diese Frage mehrere Antworten. Die erste und einfachste wurde deutlich, als wir eine Gewebeprobe chemisch analysierten. Die Leiche war einbalsamiert worden - was in den sechziger Jahren des 19.

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