Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
Jahrhunderts nicht annähernd so häufig vorkam wie heute, bei einem Offizier und Gentleman von Reichtum und gesellschaftlichem Ansehen aber auch nicht allzu sehr verwundert. Ein Mann von Shys Stellung wurde in seinen besten Kleidungsstücken bestattet - genau in der schwarzen Jacke und dem gestärkten Hemd, die wir später auf dem letzten bekannten Foto, einer Aufnahme von Anfang der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts, wieder erkannten.
Um den nächsten Puzzlestein einzufügen, mussten wir ein wenig metallurgische und chemische Detektivarbeit leisten. Wie bereits erwähnt, bestand der Sarg aus Gusseisen, und er war so widerstandsfähig, dass er über ein Jahrhundert lang das Wasser fern hielt. Ebenso bildete er eine Barriere für die Sargfliegen, zähe Insekten von der Größe einer Mücke, die sich tief in die Erde graben, hölzerne Särge durchbohren und durch winzige Öffnungen auch in Metallsärge eindringen. Und da der Sarg luftdicht verschlossen war, hatten auch Bakterien kaum Sauerstoff zur Verfügung, um das weiche Gewebe der Leiche abzubauen. So kam es, dass das Fleisch noch rosa aussah wie zwei bis sechs Monate nach dem Tod.
Damit war die beunruhigende Frage, die ich mir selbst gestellt hatte, wenigstens teilweise beantwortet. Aber dahinter stand eine tiefere Erkenntnis, und die quälte mich noch mehr: Ich wusste einfach nicht genug - nicht annähernd genug - über die Vorgänge, die nach dem Tod eines Menschen in seinem Körper ablaufen. Und damit war ich nicht allein: Niemand wusste genug darüber. Anthropologen, Pathologen, Leichenbeschauer, Polizei - alle hatten entsetzlich wenig Ahnung davon, was sich in einer Leiche nach dem Tod wann und wie abspielt.
Colonel Shy hatte - unter tätiger Mithilfe einiger Zeitungsreporter und meines eigenen großen Mauls - sowohl das Ausmaß meines Unwissens als auch eine große Wissenslücke der Gerichtsmedizin offen gelegt. Mir persönlich war es peinlich; wissenschaftlich faszinierte es mich; vor allem aber war ich entschlossen, daran etwas zu ändern.
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Am Ort der Tat
A us Gründen, die ich nicht ganz durchschaue, ist die Forensik im Fernsehen plötzlich zu einem beliebten Thema geworden. Abend für Abend wird eine schier endlose Reihe von Opfern ermordet, und Abend für Abend werden diese Morde schnell und auf intelligente Weise aufgeklärt. Zumindest in den meisten Fernsehkrimis ist der Gerichtsmediziner dabei so etwas wie ein Gott, ausgestattet mit ungeheurer Intelligenz und der abgefeimtesten Technik, die man sich vorstellen kann.
Das Eingeständnis schmerzt mich, aber irgendwie bin ich nicht ganz so schlau wie die superklugen Leute im Fernsehen - und das Gleiche gilt, bei allem Respekt, auch für viele meiner Gerichtsmedizinerkollegen. Wir sind keine Genies und können mit unseren Gerätschaften weder alle Fragen beantworten noch alle Täter ausfindig machen. Aber auch wenn das Fernsehen manchmal unrealistische Erwartungen an die Schnelligkeit und Zuverlässigkeit von Mordermittlungen weckt, so haben manche Filme uns auch gute Dienste geleistet: Sie haben darauf aufmerksam gemacht, welch großen Beitrag forensische Wissenschaftler - auch ganz normale aus dem wirklichen Leben - dazu leisten können, Mörder vor Gericht zu stellen. Und in einer Hinsicht haben die Krimis Recht: Die Arbeit am Tatort ist für die Aufklärung eines Verbrechens völlig unverzichtbar.
Erstaunlicherweise haben meine Kollegen aus der forensischen Anthropologie in ihrer großen Mehrzahl - nach meiner Vermutung etwa 90 Prozent - nie an einem Tatort ermittelt. Sie geben sich damit zufrieden, Knochen auf einem Labortisch oder unter dem Mikroskop zu untersuchen, beschmutzen sich aber Hände und Schuhe nicht im Freiland mit Kot, Schlamm oder Blut. Auf diese Weise bleiben sie sauber und trocken, aber ihnen entgehen auch viele Indizien, aus denen sie die Wahrheit rund um das Mordopfer und sein Schicksal erfahren könnten. Beispielsweise um ein Opfer wie James Grizzle. Seine Geschichte - die wir am Tatort rekonstruierten - gehört zum Bizarrsten und Entsetzlichsten, was mir in meiner Laufbahn begegnet ist.
An einem eisigen Januarmorgen erhielt ich einen Anruf von einem Beamten der Polizeibehörde des Kreises Hawkins in Tennessee. Ob ich bei der Suche nach der Leiche eines Mannes helfen könne, der nach den Vermutungen der Polizei ungefähr eine Woche zuvor in seinem Haus verbrannt war? Ich sagte meine Mitarbeit zu und nahm drei meiner klügsten Doktoranden mit: Am nächsten Morgen
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