Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
Chinesisches Werk über Gerichtsmedizin, erschienen 1247
A ls mir klar wurde, dass ich die Zeit seit dem Tod von Colonel Shy falsch eingeschätzt hatte - und zwar um nicht weniger als 112 Jahre -, bestand meine erste Reaktion darin, dass es mir zutiefst peinlich war. Gegenüber den Journalisten, die über den Vorfall berichteten, hatte ich mich voller Überzeugung geäußert, und hinterher musste ich viele meiner Worte widerrufen - Worte, die von Tennessee bis nach Thailand überall in gedruckter Form erschienen waren.
Aber demütigende Erfahrungen können auch den Weg zu den großartigsten Erkenntnissen eröffnen, vorausgesetzt, wir sind bereit, aus ihnen zu lernen. Es dauerte nicht lange, dann machte bei mir das Gefühl der Peinlichkeit einer beruflichen Neugier Platz. Dass gerichtsmedizinische Fälle mir immer so reizvoll erschienen, liegt unter anderem daran, dass sie eine Herausforderung darstellen: Oft handelt es sich um tragische Verbrechen, aber es sind auch wissenschaftliche Rätsel, die es zu lösen gilt. Ich bin nie gern auf die Jagd gegangen - die Vorstellung, Tiere aus sportlichen Gründen zu töten, hat für mich absolut keinen Reiz -, aber die Spannung beim Entschlüsseln eines gerichtsmedizinischen Rätsels unterscheidet sich vermutlich nicht sonderlich stark von der Erregung eines Großwildjägers, der sich an ein gefährliches Raubtier heranpirscht.
Aber worin bestand in diesem Fall das Rätsel - welcher Erkenntnis würde ich nachjagen? Je mehr ich darüber nachdachte, desto spannender wurde es: Meine Beute war der Tod selbst. Um genau zu begreifen, was dem Colonel Shy widerfahren war - und was am Ende uns allen widerfahren wird -, musste ich dem Tod bis weit in sein eigenes Revier hinein folgen, seine Fressgewohnheiten beobachten, seine Bewegungen und Zeitpläne festhalten.
Vor mehr als 700 Jahren stellte ein chinesischer Beamter namens Sung Tz’u ein bemerkenswertes Handbuch für gerichtsmedizinische Untersuchungen zusammen. Dieses Werk - sein Titel wird häufig mit den Worten Vom Hinwegwaschen des Ungerechten übersetzt - schlägt eine eindrucksvolle Vielfalt von Untersuchungen vor, die man in den ersten Stunden oder Tagen nach einem verdächtigen Todesfall an der Leiche vornehmen soll. Außerdem beschreibt das Buch in sehr anschaulichen Begriffen, welche Veränderungen ein Leichnam nach dem Tod über längere Zeit hinweg durchmacht - in den Wochen oder Monaten, bis sich der Körper vom Fleisch in nackte Knochen verwandelt hat.
In dem Dreivierteljahrtausend, seit Sung Tz’u sein Werk verfasste, hatte man über die längere Phase nach dem Tod praktisch nichts Neues mehr entdeckt oder veröffentlicht. Als ich 1977 die sterblichen Überreste von Colonel Shy untersuchte, konnte ich der wissenschaftlichen Literatur keine größeren Kenntnisse entnehmen als die, welche Sung Tz’u bereits 1247 besessen hatte.
Schon lange bevor ich die Bekanntschaft von Colonel Shy machte, hatte sich in meinem Hinterkopf die Idee festgesetzt, die Verwesung wissenschaftlich zu untersuchen. Der Keim war bereits 1964 gepflanzt worden: Damals schrieb ich an Harold Nye von der Polizei des Bundesstaates Kansas und schlug ihm vor, wir sollten einen Bauern finden, bei dem wir die Verwesung von Schlachtvieh untersuchen konnten (»Wenn Sie einen Farmer kennen, der bereit wäre, eine Kuh zu schlachten und liegen zu lassen...«). Der gleiche Keim schlummerte auch 1971 in mir, als ich nach Knoxville zog und an der University of Tennessee die Leitung des anthropologischen Instituts übernahm. Die Stellung an der dortigen Universität war nicht nur mit Lehrverpflichtungen verbunden, sondern auch mit einer offiziellen Funktion auf Bundesstaatsebene: Ich wurde zum ersten (und bis heute einzigen) forensischen Anthropologen des Staates Tennessee ernannt. Das Ernennungsschreiben traf bereits ein, als ich noch damit beschäftigt war, Hunderte von Kisten mit Knochen von Arikara-Indianern in den muffigen Büroräumen unterhalb des Neyland Stadium zu verstauen. Es zeigte mir, wie wichtig vielschichtige Beziehungen sind.
Ein oder zwei Jahre zuvor hatte Bob Gilbert, einer meiner Doktoranden an der University of Kansas, Gerichtsmediziner aus dem ganzen Land um die Überlassung von Schambeinen gebeten. Bob erforschte die Unterschiede im Knochenbau von Männern und Frauen. Insbesondere interessierte er sich für die Veränderungen, die sich an der Schambeinfuge von Frauen abspielen, jener Verbindungsstelle auf der Vorderseite des Beckens,
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