Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
Und für einen forensischen Anthropologen - insbesondere einen, der einen offiziellen Dienstausweis der Polizei bei sich trug und eine amtliche Position bekleidete - kam Zimperlichkeit nicht in Frage. Ich hatte ausdrücklich erklärt, dass man mich ansprechen konnte, wenn man Hilfe bei der Identifizierung von Toten oder der Feststellung von Todesursachen brauchte. Deshalb war mir jeder Fall und jede Leiche willkommen. Aber manche waren willkommener als andere - nicht nur für mich, sondern auch für die anderen Kollegen und Mitarbeiter, mit denen wir uns die Räumlichkeiten unter dem Footballstadion teilten. Der erste, der sich schließlich beschwerte, war der Hausmeister.
Ein Fischer hatte im Emory River etwa 80 Kilometer von Knoxville entfernt einen »Schwimmer« - eine schwimmende Leiche - gefunden, und ein Kreispolizist aus Roane brachte sie mir zur Identifizierung. Der tote Mann trug noch den größten Teil seiner Kleidungsstücke; nur seinen Kopf trug er leider nicht mehr. Das machte es schwierig oder vielleicht sogar unmöglich, ihn eindeutig zu identifizieren. »Wir müssen den Kopf finden«, sagte ich dem Polizisten. Er konnte durchaus am Boden des Emory weit weg von der Stelle liegen, wo der Fischer die Leiche gefunden hatte, aber es bestand auch die Chance, dass jemand den Schädel irgendwo am Flussufer gefunden und vielleicht sogar mitgenommen hatte.
Die Leiche traf an einem Mittwoch ein. Am Donnerstag brachte die Roane County News , das lokale Wochenblatt, auf der ersten Seite einen Bericht über die Entdeckung der Leiche; dabei wurde auch erwähnt, wie wichtig der fehlende Schädel war. In dem Artikel hieß es ausdrücklich, wer einen Schädel gefunden oder in seinen Besitz gebracht habe, solle ihn auf das Polizeirevier bringen. In den folgenden Tagen wurden zwei Schädel abgegeben, und die Polizisten brachten sie pflichtschuldigst zu mir.
Den ersten erhielten wir am Freitag. Er war trocken und von Staub bedeckt, stammte also eindeutig nicht von unserer erst kürzlich verstorbenen, verwesten Wasserleiche. Dennoch fand ich zweierlei an diesem Schädel faszinierend: seine ethnische Zugehörigkeit und ein riesiges Loch, das aus der Schädelbasis herausgebrochen war. Unser Schwimmer war ein Weißer, dieser Schädel sah jedoch japanisch oder chinesisch aus und war damit im Osten von Tennessee ein ungewöhnlicher Fund. Ich erkundigte mich bei der Polizei nach der zugehörigen Geschichte und erfuhr, er sei von einem Schrotthändler abgegeben worden. Dieser hatte einige Tage zuvor bei einem Grundbesitzer aus der Gegend ein Schrottauto aufgekauft. In einem Zwanzig-Liter-Farbkanister, der im Motorraum des Autos stand, hatte der Schädel gelegen.
Wie sich herausstellte, hatte der Verkäufer des Schrottautos im Zweiten Weltkrieg an der Schlacht im Pazifik teilgenommen. Als er an einem Strand auf Okinawa entlangging, war er zu einem abgestürzten japanischen Kampfflugzeug gekommen; darin befand sich der Schädel des toten Piloten, den unser patriotischer GI als Kriegstrophäe mit nach Hause nahm. (In den folgenden Jahren hatte ich es noch häufiger mit Schädeltrophäen aus dem Zweiten Weltkrieg zu tun; sie waren fast immer japanischen und so gut wie nie europäischen Ursprungs - ein interessanter Aspekt unserer Haltung gegenüber den Toten aus unterschiedlichen Kulturkreisen.) Irgendwann zwischen 1945 und 1973 hatte man die Schädelbasis des japanischen Piloten - das Foramen magnum - herausgebrochen, sodass man eine Glühlampe in den Schädel stecken konnte: Der tote Soldat wurde zu einer schlichten Halloween-Dekoration degradiert.
Bei dem Schädel Nummer zwei handelte es sich um einen amerikanischen Ureinwohner. Auch er war trocken, staubig und wesentlich älter als unsere Wasserleiche. Wir mussten also weiter nach dem fehlenden Schädel suchen. Inzwischen fing das ungelöste Rätsel ganz buchstäblich an zu stinken. In den meisten Städten gibt es Leichenschauhäuser, wo man die Leichen in Kühlkammern aufbewahren kann, bis sie identifiziert sind und dann entweder von den Angehörigen übernommen oder von den Kommunalbehörden bestattet werden. In ländlichen Kleinstädten besteht diese Möglichkeit jedoch nicht - und eine solche Kleinstadt war Kingston, der Verwaltungssitz des Kreises Roane, wo unsere Leiche ans Licht gekommen war, nachdem sich in der Bauchhöhle durch die Verwesung so viele Gase gebildet hatten, dass sie auf dem Wasser schwamm. Der Polizist wollte die stinkende Leiche nicht wieder mit
Weitere Kostenlose Bücher