Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
zweistündige Rückfahrt nach Knoxville. Im Laderaum des Lieferwagens lagen etwa 20 Papiertüten mit verbrannten menschlichen Überresten, und in der Luft zwischen uns hingen zwei drängende Fragen: Waren es die Knochen von James Grizzle? Und wenn ja, wer hatte ihn umgebracht und warum?
Um die erste Frage zu beantworten, mussten wir Knochen und Zähne genau untersuchen. Am Tatort waren wir ziemlich sicher gewesen, dass es sich um die Überreste eines Mannes handelte. Die langen Knochen waren recht groß und kräftig, und obwohl der Schädel zertrümmert war, konnte man die Protuberantia occipitalis externa - den Höcker an der Schädelbasis - deutlich erkennen; er war ungewöhnlich kräftig ausgebildet, auch das ein nahezu sicherer Hinweis auf einen Mann. Weitere Bestätigung lieferten die Messungen im Labor: der Femurkopf - die Kugel, die in der Hüftgelenkspfanne liegt - hat bei erwachsenen Männern in der Regel einen Durchmesser von mindestens 45 Millimetern; bei unserem Opfer maßen die Kugeln an beiden Oberschenkeln 50 Millimeter. Auch der Umfang der Oberschenkelknochen war mit 94 Millimetern recht männlich; bei Frauen erreicht er selten mehr als 81 Millimeter.
Um die Rasse festzustellen, sahen wir uns den Bau des Gesichtes an. Der Schädel war zwar stark zerstückelt, aber Teile von Ober- und Unterkiefer waren noch so weit intakt, dass wir Schlüsse daraus ziehen konnten. Die Alveolarfortsätze von Ober- und Unterkiefer, wo die Zahnwurzeln im Knochen sitzen, waren flach, und die Zähne standen nicht nach vorn, sondern waren im rechten Winkel zu den Kiefern angeordnet. Mit anderen Worten: Es handelte sich um die Kiefer eines Weißen.
Unser Toter war eindeutig erwachsen. Die Schlüsselbeine waren vollständig verknöchert, das heißt, er war mindestens 25. Am unteren Teil der Wirbelsäule waren die Anfänge arthritischer Knochenwucherungen zu erkennen, zerklüftete, gezackte Vorsprünge an den Kanten der Wirbel; dies ließ auf ein Alter jenseits der 30 schließen, jedoch waren die Wucherungen noch nicht so weit fortgeschritten, dass sie auf ein Alter über 40 hingedeutet hätten. Lieutenant Wilmot hatte uns berichtet, dass James Grizzle 36 gewesen war; wissenschaftlich sprach also alles dafür, dass es sich tatsächlich um ihn handelte. Um ganz sicherzugehen, mussten wir aber noch Glück mit den zahnärztlichen Unterlagen haben.
Bevor Grizzle in das streng religiös geprägte Tennessee gezogen war, hatte er in Indiana gelebt, in dem es viel Industrie gibt. Als Angestellter der Firma Bethlehem Steel hatte er Anspruch auf gute medizinische und zahnärztliche Leistungen - und ein gewissenhafter Zahnarzt in La Porte in Indiana hatte einige Jahre zuvor Röntgenaufnahmen von seinem Gebiss angefertigt.
Die Knochendichte ist im Unterkiefer größer als im Oberkiefer, und deshalb hatten wir den Unterkiefer in der Asche in besserem Zustand vorgefunden. In beiden hatte die Hitze jedoch die meisten Zähne an der Verbindungsstelle zwischen Zahnschmelz und Zahnwurzel platzen lassen. Nach Füllungen konnten wir also in aller Regel nicht suchen; stattdessen mussten wir charakteristische Merkmale in Aufbau und Geometrie der Zahnwurzeln und Kiefer zur Deckung bringen.
Die Röntgenaufnahme von Grizzles Unterkiefer zeigte einige Besonderheiten. Der linke dritte Molare - der Weisheitszahn - war nicht vollständig durchgebrochen; der linke erste Molare fehlte, und der Knochen hatte gerade begonnen, in die leere Wurzelhöhle einzuwachsen; die Höhlen des ersten und zweiten rechten Molaren waren ebenfalls leer und füllten sich bereits mit Knochen. (Er mochte Anspruch auf hervorragende Zahnbehandlung gehabt haben, aber seine Zahnhygiene oder zumindest der Gesamtzustand seiner Zähne war sehr schlecht gewesen.)
Die Aufnahme des Oberkiefers zeigte eine fehlgebildete, S-förmige Wurzel am ersten Prämolaren. Derselbe Zahn hatte außerdem an der Innenseite eine Füllung.
Zu unserem Glück war der erste Prämolare oben links einer der wenigen Zähne, deren Krone nicht zu Bruch gegangen war. Und auf dieser Krone befand sich eine Füllung genau an der Stelle, die auf der Röntgenaufnahme zu sehen war. Auch alle anderen Merkmale - die fehlenden Molaren, der resorbierte Knochen, die S-förmige Zahnwurzel - stimmten genau überein. Ich rief Lieutenant Wilmot an und berichtete, wir hätten das Opfer eindeutig als James Grizzle identifiziert.
Für die verbleibenden Fragen - wer Grizzle umgebracht hatte und warum - waren Wilmot und seine
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