Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
kennen.
Im Pentagon vor den Toren Washingtons arbeitete eine alte Freundin meiner Mutter: Colonel Hilda Lovett, leitende Ernährungswissenschaftlerin für sämtliche Armeekrankenhäuser. Colonel Lovett hatte meiner Mutter versprochen, sie werde sich um mich kümmern, und sie hielt Wort. Als sie hörte, dass man mich dem AMRL zugewiesen hatte, sah sie sich nach einer geeigneten Freundin für mich um, und dabei blieb ihr Blick an einer intelligenten jungen Ernährungswissenschaftlerin hängen, die gerade am Walter Reed Army Hospital ihre Ausbildung absolvierte: First Lieutenant Mary Anna Owen. Lieutenant Owen sollte nach Fort Lee in Virginia abgeordnet werden; aber ob es nun ein glücklicher Zufall war oder ob in den höchsten Etagen des Pentagon die Beziehungen gespielt hatten, jedenfalls wurde ihr Befehl geändert, und sie kam stattdessen nach Fort Knox. Auch ich erhielt einen Befehl: Ich sollte den weiblichen Lieutenant im Empfang nehmen und dafür sorgen, dass sie sich bei uns gut einlebte.
An dem verabredeten Nachmittag im Herbst 1952 fuhr ich zu ihrer Wohnung. Wie immer war ich zu früh dran, und als ich hinkam, war sie nicht zu Hause, sondern nebenan und unterhielt sich mit einer Kollegin. Sie hörte mich klopfen und kam angerannt. Als ich aber die Schritte hörte und mich umdrehte, sah ich nicht Lieutenant Owen mit ihrer Armeeuniform im Laufschritt, sondern ein Mädchen namens Ann, das in seiner roten Kleidung hervorragend aussah. In diesem Augenblick, als sie in der roten Uniform auf mich zugelaufen kam, dachte ich: Dieses Mädchen wirst du heiraten .
Ich sollte Recht behalten. Ein knappes Jahr später heirateten wir in meiner Heimatstadt in Virginia; bei uns waren meine Mutter, mein Stiefvater, zahlreiche Freunde und Verwandte sowie die Person, die das glückliche Zusammentreffen möglich gemacht hatte: Colonel Hilda Lovett.
In den folgenden 40 Jahren bauten Ann und ich uns unser gemeinsames Leben auf. Wir legten insgesamt vier akademische Examina ab und bekamen drei gesunde Söhne. Unser Leben war nicht immer einfach; zwischen Charlie, unserem ersten Kind, und Billy, dem zweiten, hatte Ann fünf Fehlgeburten. Insgesamt jedoch waren wir zufrieden, viel beschäftigt und glücklich.
Von Fort Knox zogen wir über Lexington, Philadelphia, Nebraska und Kansas schließlich nach Tennessee. Zwölf Jahre lang verbrachten wir den Sommer in South Dakota, wo ich tote Arikara-Indianer ausgrub, während Ann den Sioux half, am Leben zu bleiben - sie trug dazu bei, in dem Stamm mit gesünderer Ernährung den Diabetes zu bekämpfen. Bevor es uns so recht bewusst wurde, waren unsere Söhne erwachsen, und im August 1990 hatten wir unser erstes Enkelkind. Ein neues Kapitel unseres Lebens begann. Aber es endete nicht so, wie wir es uns gewünscht oder erwartet hätten. Ein Jahr später wurde Ann krank.
Es begann mit Bauchschmerzen. Anfangs traten sie nur zeitweise auf, dann ständig. Ann ging zum Hausarzt, und der machte Röntgenaufnahmen. Dem Röntgenologen fiel ganz am Rand des Bildes etwas auf, das wie ein Verschluss des unteren Magen-Darm-Traktes aussah; also ging Ann ins Krankenhaus, trank einen schrecklichen Barium-Milchshake und ließ sich fluoroskopisch untersuchen. Der Pathologe erklärte uns, sie habe Krebs, und der sei schon weit fortgeschritten: Er befand sich im Stadium III, das heißt, er hatte vermutlich bereits auf andere Organe übergegriffen.
Ann wollte dagegen ankämpfen. Mit ihren 60 Jahren war sie noch relativ jung, und sie freute sich auf viele weitere Enkelkinder. Deshalb entschloss sie sich zu einer aggressiven Chemotherapie. Die Behandlung forderte schweren Tribut, aber Ann hielt durch, bis es zu spät war. Im März 1993, 18 entsetzliche Monate nach jenem ersten Besuch beim Hausarzt, war Ann tot.
Jahrzehntelang hatte ich jeden Tag mit dem Tod zu tun gehabt, und doch war es mir immer gelungen, ungerührt über den Tragödien zu stehen, die mich dabei umgaben. Ich war Wissenschaftler; verweste Leichen und gebrochene Knochen - mein Arbeitsmaterial - waren für mich gerichtsmedizinische Fälle, wissenschaftliche Fragestellungen, intellektuelle Herausforderungen und sonst gar nichts. Das heißt nicht, dass ich hartherzig gewesen wäre, dass mich die Menschen nicht gerührt hätten, deren Angehörige gestorben waren; es berührte mich sehr wohl, vor allem wenn es sich um die Eltern ermordeter Kinder handelte. Aber das waren vorübergehende Wellen des Mitgefühls. Als der Tod jetzt in meinem eigenen Haus
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