Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
Polizei des Bundesstaates New Hampshire.
»Hallo, hier ist Dr. Bass«, sagte ich. Corporal Kelleher stellte sich vor. Er arbeitete in der Abteilung für Kapitalverbrechen und leitete die Ermittlungen in einem Fall, bei dem es sich nach seiner Vermutung möglicherweise um Mord handelte. Von mir hatte er aus dem Buch Bones erfahren, das Doug Ubelaker, einer meiner früheren Studenten, geschrieben hatte. Ubelaker war jetzt als Anthropologe an der Smithsonian Institution tätig. (Das gehört zu den Dingen, die mir beim Rückblick auf meine Berufslaufbahn besondere Freude bereiten: Von den physischen Anthropologen der Smithsonian Institution haben drei - Ubelaker, Doug Owsley und Dave Hunt - bei mir promoviert, und bei einem vierten, Don Ortner, saß ich in der Prüfungskommission für die Promotion.)
Als Kelleher mir den Fall in groben Zügen schilderte, machte ich mir Notizen. Man hatte in Alexandria, einem winzigen Dörfchen in der Mitte des Bundesstaates, in einem Hinterhof ein paar Hände voll verbrannter Knochenfragmente gefunden. Der medizinische Sachverständige hielt sie für Hundeknochen, aber Kelleher hatte den Verdacht, sie könnten von einem Menschen stammen. Wenn er mit seiner Vermutung Recht hatte, musste er den Toten identifizieren, und wenn irgend möglich, wollte er auch etwas über die Todesursache erfahren. Kelleher fragte, ob ich ihm helfen könne. »Ich glaube schon«, erwiderte ich. »Auf jeden Fall kann ich es versuchen.«
Sechs Tage später brachte FedEx ein gut verpacktes Paket; darin lag zwischen vielen Schichten von Papier und Luftpolsterfolie die Schachtel mit den Knochenbruchstücken. Es waren Hunderte, und sie waren völlig verbrannt. Ich hatte zu jener Zeit schon Dutzende von verbrannten Leichen mit vielen hundert Knochen untersucht; man hatte sie aus ausgebrannten Autos oder abgebrannten Häusern geklaubt, ja sogar aus einer »in die Luft gejagten« Fabrik für Feuerwerkskörper, wie manche Einheimische sagen würden. Aber von den Resten aus richtigen Krematorien abgesehen, hatte ich noch nie derart stark verbrannte Knochen gesehen.
Fast jeder forensische Fall ist ein wissenschaftliches Puzzle im übertragenen Sinne. Bei diesem hier jedoch behielt das Wort seine ganz buchstäbliche Bedeutung. Das Paket enthielt insgesamt 475 einzelne Knochenbruchstücke, viele davon nicht größer als eine Erbse. Daraus auch nur etwas Ähnliches wie ein menschliches Skelett zusammenzusetzen, würde mehrere Tage langwieriger Arbeit in Anspruch nehmen.
Ich brachte das Paket ins Knochenlabor im Untergeschoss des Stadions. Dort hatten wir viel Platz zum Arbeiten, gutes Licht von einer breiten Fensterfront und an der Tür ein kräftiges Schloss, das für den Schutz unserer anvertrauten Güter sorgte. Ich räumte einen der langen Tische am Fenster ab, entrollte darauf eine lange braune Packpapierbahn und befestigte sie mit Klebeband an der Tischplatte. Mit einem Filzstift schrieb ich die Namen der großen Körperabschnitte - Schädel, Arme, Rippen, Wirbel, Becken und Beine - mehr oder weniger an ihre normalen anatomischen Positionen. Wenn ich zusammengehörige Stücke zu mehreren Haufen ordnete, konnte ich die verkohlten Trümmer, die einst ein menschliches Skelett gewesen waren, anschließend leichter wieder zusammensetzen.
Während der nächsten Tage arbeitete ich am Zusammenbau des lebensgroßen Puzzles. Es war eine anstrengende, langwierige und verblüffende Arbeit - genau die Art wissenschaftlicher Herausforderungen, die mir immer am besten gefallen hatte. Manche Stücke machten es mir recht einfach. Ich besaß vier große Fragmente des rechten Oberschenkelknochens, Reste beider Kniescheiben, Dutzende von Rippenstücken und drei teilweise erhaltene Wirbel. Aber nur allzu schnell hatte ich alle großen, einfachen Stücke an ihren Platz gelegt; nun blieben die winzigen Bruchstücke, die schwieriger einzuordnen waren, und das waren Hunderte. Es ist eine Herausforderung , redete ich mir zu. Du hast immer gesagt, dass du Herausforderungen liebst. Sei vorsichtig mit deinen Wünschen.
Offensichtlich stammten die Stücke von allen großen Körperregionen - oder vielmehr, wie mir bald klar wurde, von allen außer einem: Unter den 475 Bruchstücken fand ich kein einziges Stück vom Schädel. Das heißt nicht, dass es solche Stücke nicht gab; mehr als die Hälfte der Brocken war so klein und derart ohne jedes charakteristische Merkmal, dass ich nicht feststellen konnte, zu welchem Knochen sie gehörten.
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