Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
nehmen, und setzte mich dann in Concord, der Hauptstadt des Bundesstaates, in einem Hotel ab. Am nächsten Morgen war er wieder da und brachte mich ins kriminaltechnische Labor; es lag im Keller des Polizeihauptquartiers von New Hampshire.
Apropos Keller: Warum liegen kriminaltechnische Labors und Leichenhallen grundsätzlich im Keller? Warum nicht in der obersten Etage, wo man aus großen Eckfenstern den Blick auf die Stadt oder eine ländliche Umgebung hat? Nur weil wir manchmal gern Leichen und Knochen betrachten, heißt das doch nicht, dass wir hier und da einen schönen Blick aus dem Fenster nicht zu schätzen wüssten. Aber ich schweife ab.
Am Ende hatten wir doch noch ein wenig Glück. Wenige Tage zuvor hatten Straßenarbeiter in Alexandria das Gebüsch an einer Sackgasse gerodet, und dabei waren sie über einen Plastikmüllsack gestolpert, den jemand ins Unterholz geworfen hatte. In dem Sack befanden sich ein Schädel und mehrere andere Knochen. Manche davon, unter anderem der Schädel, trugen geringe Brandspuren; andere waren anscheinend überhaupt nicht mit Feuer in Berührung gekommen.
Ein Vergleich der Zähne mit zahnärztlichen Röntgenaufnahmen bestätigte, was Jim Kelleher schon seit einiger Zeit vermutet hatte: Die Tote war Sheilah Anderson, Weiße, 47 Jahre alt, 16 Monate zuvor als vermisst gemeldet. Als Mrs. Andersons erwachsene Tochter ihre Mutter nicht mehr erreichen konnte, hatte sie im Juli 1993 die Polizei verständigt; etwa zwei Wochen später wurden die ersten verbrannten Knochen gefunden. Deshalb hatte Kelleher mich um die Untersuchung gebeten, obwohl der medizinische Sachverständige den Eindruck hatte, es müsse sich um Hundeknochen handeln. Sheilahs Mann, Jim Anderson, war früher Beamter der städtischen Polizei von New York gewesen und hatte den Dienst aus undurchsichtigen Gründen quittiert; er berichtete den Ermittlern, seine Frau sei eines Tages einfach abgehauen. Sie war nach Andersons Angaben mit unbekanntem Ziel verreist.
Sheilahs Tochter hatte Zweifel an der Geschichte ihres Stiefvaters, und so ging es auch der Polizei, vor allem nachdem Anderson zwei Tage nach dem Verschwinden seiner Frau einen Selbstmordversuch unternommen hatte. Er wurde zur Beobachtung in die psychiatrische Abteilung eines Krankenhauses eingewiesen. Am 2. Juli, dem Tag, an dem er entlassen werden sollte, war ein Polizist mit Sheilahs Tochter zu dem Haus gefahren, damit sie für Jim ein paar saubere Kleidungsstücke für den Heimweg holen konnte. Im Haus sah sie sich ein wenig um, und draußen am Waldrand fand sie schließlich einen verkohlten Tennisschuh, den sie als Eigentum ihrer Mutter erkannte.
Nun begann auch der Beamte, ernsthaft zu suchen. Im Vorgarten lag Asche: Jim Anderson hatte ein paar Wochen zuvor einen Haufen Gestrüpp verbrannt. Als der Polizist die Asche durchsiebte, fand er Knochenstücke - die 475 verkohlten Fragmente, mit denen mein Skelettpuzzle begonnen hatte. Genau in diesem Augenblick kam Jim Anderson aus der Psychiatrie nach Hause. Als er sah, wie der Polizist ein Knochenstück nach dem anderen aus der Asche holte, fing er an, sich zu betrinken. Wodka pur.
Zehn Tage später fand die Polizei die zweite Knochenansammlung: Der Schaft des Oberschenkelknochens, das Schienbein des Hirsches und die Fragmente aus dem zweiten Glasgefäß lagen verstreut im Wald, nicht weit vom Fundort des verbrannten Turnschuhs. Aber dann dauerte es noch volle 15 Monate, bevor der Schädel auftauchte. Nachdem wir ihn hatten, brauchte Kelleher mich nicht mehr, um ihn eindeutig zu identifizieren: Das gelang mit Hilfe der zahnärztlichen Röntgenaufnahmen innerhalb weniger Stunden, nachdem der Straßenbautrupp den Müllsack gefunden hatte. (Als sollte jeder Zweifel ausgeräumt werden, hing noch eine Halskette von Sheilah um die Wirbel.)
Dass ich jetzt nach einer Fahrt von 1600 Kilometern im Keller des Polizeihauptquartiers von New Hampshire stand, hatte einen anderen Grund: Ich sollte so viel wie möglich darüber herausfinden, wie Sheilah Anderson gestorben war. Schon beim ersten Blick auf den Schädel wusste ich, dass ich den Weg nicht umsonst auf mich genommen hatte. Die Rückseite war versengt, allerdings nicht besonders stark. Auf halber Höhe, ein wenig rechts von der Mitte, befand sich ein Loch von der Größe einer großen Münze. Solche Löcher hatte ich schon oft gesehen: Sie bleiben zurück, wenn ein Hammer mit großer Kraft auf den Schädel geschlagen wird. Der Schlag hatte nicht nur ein rundes
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