Der Knochenleser - Der Gruender der legendaeren Body Farm erzaehlt
Dennoch schien der leere Fleck am oberen Ende meiner Zeichnung auf dem braunen Papier kein reiner Zufall zu sein. Und was noch schlimmer war: Es bedeutete, dass ich kaum etwas darüber herausfinden konnte, um wen es sich hier handelte und wie er oder sie gestorben war.
Nachdem ich zehn Tage gegrübelt hatte, brachte FedEx ein zweites Paket von Jim Kelleher. Es war kleiner als das erste, aber ebenso gut verpackt und enthielt ein großes, relativ wenig verkohltes Knochenstück, in dem ich sofort den mittleren Abschnitt eines menschlichen Oberschenkelknochens erkannte; außerdem fand ich in dem Päckchen ein Glasgefäß mit mehr als 60 kleinen Knochenfragmenten und einen weiteren, nicht verbrannten Knochen, der aber zahlreiche Bissspuren trug. Das obere Ende war vermutlich von Hunden abgenagt worden; das untere war abgebrochen. Im Gegensatz zu allen anderen Bruchstücken stammte dieses eindeutig nicht von einem Menschen. Ich ging ein paar Zimmer weiter und befragte einen Kollegen, den Zoologen und Archäologen Walter Klippel. Er erkannte sofort, dass es sich um das Schienbein vom Hinterlauf eines Weißwedelhirsches handelte.
Nach Kellehers Angaben hatte man die erste Sammlung verbrannter Knochenstücke am 2. Juli bei einem Privathaus in einer Grube gefunden, in der normalerweise Abfälle und Buschwerk verbrannt wurden; die zweite war am 22. Juli entdeckt worden; diese Knochen waren entlang eines Fußweges verteilt, der hinter dem Haus in den Wald führte.
Leider verfügte ich immer noch weder über einen Schädel noch über Zähne; anhand des vorhandenen Materials würde mir also wahrscheinlich keine eindeutige Identifizierung gelingen. Wenn ich Glück hatte, konnte ich an den Knochen vielleicht einen verheilten Bruch oder ein anderes charakteristisches Merkmal finden, das man mit den Röntgenaufnahmen einer Person in Verbindung bringen konnte. Aber in diesem Fall war das Glück mir offensichtlich nicht hold.
Immerhin konnte ich an den Knochen, so verbrannt und zerstückelt sie auch waren, noch eine ganze Reihe von Details erkennen, sodass ich das Spektrum für Kelleher ein wenig einengen konnte. Relativ intakt und nicht verbrannt war beispielsweise der Gelenkkopf des Oberarmknochens, der in der Gelenkpfanne der Schulter liegt. Seinen Durchmesser vermaß ich sehr genau mit einem Greifzirkel. In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts hatte der Anthropologe T. Dale Stewart von der Smithsonian Institution, der in den fünfziger und sechziger Jahren in enger Zusammenarbeit mit dem FBI Bahnbrechendes für das Fachgebiet der forensischen Anthropologie geleistet hatte, eine genaue Untersuchung der Größe von Oberarm-Gelenkköpfen bei Männern und Frauen angestellt. Wenn der Kopf einen Durchmesser von mehr als 47 Millimetern hat, muss er Stewarts Befunden zufolge von einem erwachsenen Mann stammen. Werte zwischen 44 und 46 Millimetern können sowohl auf einen Mann als auch auf eine Frau hindeuten, und bei einem Durchmesser von 43 Millimetern oder weniger muss es sich um eine Frau handeln. Das Stück vor mir auf dem Labortisch hatte einen Durchmesser von 42 Millimetern. Unser geheimnisvolles Opfer war also eine Frau; für diese Annahme sprach auch eine typisch weibliche Kante am Hüftbein.
Wie alt war sie, als sie starb? Steht die Schamfuge zur Verfügung, ist eine Altersabschätzung einfach. Aber wieder einmal hatte ich Pech: Auch dieses Knochenstück fehlte. Deshalb musste ich mich auf einige weniger exakte Indizien stützen. Bei allen Knochen waren die Enden (die Epiphysen) mit dem Schaft verschmolzen, das heißt, ihr Wachstum war abgeschlossen. Nun wusste ich also, dass es eine erwachsene Frau war. Sehr alt war sie aber nicht: Die Wirbelsäule zeigte nur geringfügige arthritische Wucherungen, jene unregelmäßigen Kanten, die sich ungefähr ab dem 40. Lebensjahr an den Wirbeln bilden. Die Oberflächenbeschaffenheit eines anderen Knochens, des Steißbeins, war mit einem Alter von 35 bis 45 Jahren zu vereinbaren.
Das war alles, was ich Kelleher mit Sicherheit sagen konnte. Ich wusste nicht einmal, ob es eine Weiße, eine Farbige oder eine Asiatin war.
»Am besten wäre es, wenn wir den Schädel hätten«, sagte ich.
15 Monate später ging mein Wunsch in Erfüllung. An einem kalten Abend im Oktober 1994 trat ich aus einer Maschine der Delta Airlines auf die windige Rollbahn des Flughafens von Manchester in New Hampshire. Kelleher holte mich im Flughafengebäude ab, half mir, meinen Koffer in Empfang zu
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