Der Köder
haben alles unter Kontrolle.
Wenn wir uns zusätzlich zu allen anderen Problemen noch um euch
beide kümmern müssten, wäre es eher eine Belastung. Wenn ihr also wirklich helfen wollt, schafft die Kunden hier weg – sofort – und seht zu, dass ihr nach Hause verschwindet.»
Tim, dessen schwarzes Haar schweißnass war, ging zur Bank und
setzte sich neben Lily. «Sie sollten auch nicht hier bleiben, Mrs.
Gilbert. Wenn wir gehen müssen, möchte ich, dass Sie mit uns
kommen.»
Lily lächelte Tim an und tätschelte seine Hand. «Ihr seid gute
Jungs. Hört auf, euch zu sorgen. Morgen bringen wir Jack an einen sicheren Ort, dann ist alles wieder normal.»
Marty sah sie an, als Tim und Jeff die Kunden verabschiedeten.
«Wie sollen wir das machen?»
«Was?»
«Jack an einen sicheren Ort bringen.»
«Ganz einfach. Du wirst ihn dazu überreden.»
«Dafür hast du nicht genug Scotch vorrätig.»
«Paah, ich habe eine ganze Kiste im Keller.»
KAPITEL 35
Tim und Jeff brauchten eine halbe Stunde, um alle Kunden zum
Verlassen der Gewächshäuser und des Geländes der Gärtnerei zu
überreden. Sie hatten das sehr gut gemacht, sehr professionell,
dachte Marty, hatten die Ausrede vom Notfall in der Familie benutzt und mit derartigen Trauermienen vorgebracht, dass bei den Kunden
jede Verärgerung im Keim erstickt worden war. «Tut uns sehr leid, das hören zu müssen», wurde ihnen immer wieder geantwortet,
während die Leute gehorsam zu ihren Autos gingen. Die meisten
wussten wahrscheinlich von Moreys Ermordung am Sonntag, und
die Vorstellung, dass über diese Familie noch mehr Unglück
hereingebrochen sein könnte, wirkte ernüchternd. Erstaunlich viele fragten, ob sie etwas tun könnten. Das war nicht nur Minnesota-Freundlichkeit, sondern die individuelle Freundlichkeit dieser
Menschen, und Marty wurde wieder daran erinnert, dass, verglichen mit dem Guten, das die Menschen in die Waagschale zu werfen
hatten, das Schlechte ein nur verschwindend geringes Gewicht hatte.
Wenn man sein Leben als Polizist und die meisten seiner Tage auf
der dunklen Seite verbrachte, war es wohltuend, an dieses
willkommene Ungleichgewicht erinnert zu werden.
Bis zur allerletzten Minute versuchten Tim und Jeff noch zu
bleiben. Sie boten an, die Nacht über auf dem Gelände die Runde zu machen. Auch wenn sie keinen Angriff abwehren könnten, so doch
immerhin Warnsignale geben. Der Gedanke, dass diese beiden Kids
im Dunkeln über das Gelände patrouillierten, verursachte Marty
Gänsehaut, denn das Gefühl, es könnte etwas passieren, wurde von
Minute zu Minute stärker.
Es ist das Wetter, dachte er, als er das Tor schloss, nachdem er
die Jungs endlich in ihre Schrottautos gesetzt und zur Ausfahrt
hinausgescheucht hatte. Noch konnte man die großen Wolken nicht
sehen – nur einen weißen Dunstschleier, der wie ein schmieriger
Film über der Sonne lag. Aber man spürte sie schwer im Brustkorb, so wie die Bleischürze, die einem beim Zahnarzt vor dem Röntgen
umgelegt wurde. Die Luft war dick und schwer zu atmen, und die
Blätter hingen schlaff an Bäumen und Büschen herab.
Marty schaute sich ein letztes Mal auf dem Parkplatz um, sah nur
seinen Malibu, Jacks Mercedes sowie Beckers Streifenwagen und
ging dann zufrieden um das große Gewächshaus herum zu den
Anzuchtbeeten.
Lily Gilbert hatte seit jeher die geraden Linien gehasst, mit denen die Menschen seit ewigen Zeiten ihre Welt einteilten. Gerade Linien waren herrisch und unversöhnlich, Vorboten der Tyrannei. Reihen
von Getreide, Reihen von Gebäuden und schlussendlich Reihen von
Menschen, die stumm, reglos und furchtsam Aufstellung genommen
hatten.
Der vordere Teil der Gärtnerei war so angeordnet – das
Hauptgewächshaus ausgerichtet an der Straße, die Hecke
ausgerichtet am Gehsteig, weiße Linien auf dem Parkplatz, die den Autos vorschrieben, wo sie zu stehen hatten. Lily hatte sich damit abgefunden, denn so war die Gärtnerei angelegt, als sie sie gekauft hatten. Aber hinten, wo Töpfe und Pflanzen von den Vorbesitzern in Reih und Glied wie untertänige Diener aufgestellt worden waren, da hatte Lily die Ordnung der geraden Linien zerstört und ein fröhliches Chaos geschaffen.
Wege aus kleinen weißen Kieselsteinen schlängelten sich wie
schläfrige Trunkenbolde zwischen eingetopften Bäumchen und
blühenden Sträuchern entlang und schlugen Bögen um die Beete mit
winterharten Zuchtpflanzen – die «Mutterbeete», wie Morey sie
genannt
Weitere Kostenlose Bücher