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Der Köder

Der Köder

Titel: Der Köder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P.J. Tracy
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allein war oder nicht, denn manchmal brachte Opernmusik Harley zum
    Weinen.
    Im vergangenen Oktober, nach dem Blutbad im Loftbüro von
    Monkeewrench, waren sie mit ihrer Firma zeitweilig in Harleys
    dritte Etage umgezogen, während sie an FLEE arbeiteten. Bis zu
    dem Tag vor einer Woche, als Annie nach Arizona abgereist war,
    hatte er Grace, Annie und Roadrunner fast sechs Monate lang Tag
    für Tag in seinem Haus zu Gast gehabt, und jetzt drängte er darauf, die Übergangslösung in eine ständige Einrichtung umzuwandeln.
    Auch nachdem sie abends alle gegangen waren, schienen ihr Geruch
    und ihre Stimmen noch in dem großen alten Haus zu verweilen und
    vermittelten das Gefühl, als wohnte hier eine echte Familie. Harley mochte dies Gefühl sehr gern.
    Heute Abend befand er sich mit Roadrunner in der Remise –
    einem zweigeschossigen Wunderwerk mit gepflastertem Boden und
    Eichentäfelung, die bis hinauf in das kathedralenhafte
    Deckengewölbe reichte. Auch hier gab es Kristalllüster, was
    Roadrunner für geradezu lächerlich übertrieben hielt. Außerdem
    trauerte er den Pferdeboxen und den Wohnungen der Stallburschen
    im ersten Stock nach, die es hier noch gegeben hatte, als Harley das Anwesen gekauft hatte.
    Der riesige Raum, in dem einst Kutschen, einspännige Schlitten
    und Zugpferde untergebracht worden waren, beherbergte im
    Augenblick Pferdestärken ganz anderer Art. Das Wohnmobil war
    nach Abschluss der eigens für ihn ausgeführten Um- und Ausbauten
    heute geliefert worden. Es war ein silbernes Ungeheuer mit
    Rauchglasscheiben, und es wirkte hier völlig fehl am Platze.
    «Sieht aus wie ein Bus.» Roadrunner stand vor dem Fahrzeug,
    die Spinnenarme in die Seite gestemmt, die Augen fast auf gleicher Höhe mit der ausladenden Windschutzscheibe, die sich gut zwei
    Meter über dem Boden befand. Er war trainingshalber auf seinem
    alten Rad mit der Zehn-Gang-Schaltung aus Minneapolis
    hergekommen und trug wie jeden Tag seine Radfahrerkluft – heute
    Abend war es ein schwarzes Dress, denn er hatte damit gerechnet,
    dass Schmutzarbeit auf ihn zukam.
    «Es ist kein Bus. Also nenn es auch nicht Bus. Es handelt sich
    um ein Wohnmobil der Luxusklasse, und sein Name lautet Chariot:
    Triumphwagen.»
    Roadrunner verdrehte die Augen. «Warum musst du leblosen
    Objekten ständig Namen geben? Ich hasse das. Alles, von deinem
    Haus bis zu deinem Schwanz.»
    «Mein Schwanz ist nicht leblos.»
    «Sagst du. Aber wenn du schon deine Freizeit damit verbringst,
    dir Namen auszudenken, dann lass dir doch mal einen neuen für
    unsere Firma einfallen.»
    «Seit über sechs Monaten zermartere ich mir das Hirn. Wie kann
    man Monkeewrench überhaupt umbenennen? Das ist wie ein…
    Sakrileg oder so.»
    «Ja, ich weiß. Als wenn man einem zehnjährigen Kind einen
    neuen Namen gibt.»
    «Genau.»
    «Aber es muss sein.»
    «Nehme ich auch an.»
    Keiner von ihnen war glücklich über die Änderung des
    Firmennamens. Mehr als zehn Jahre waren sie Monkeewrench
    gewesen, und dieser Name war zum Bestandteil ihrer jeweiligen
    Geschichten geworden.
    «Gecko», sagte Roadrunner unvermittelt.
    «Hast du geniest?»
    «Gecko. Wir sollten die Company ‹Gecko, Incorporated›
    nennen.»
    Harleys geöffneter Mund, umrahmt vom schwarzen Bart, drückte
    ungläubige Bestürzung aus. «Hast du deinen beschissenen Verstand
    verloren? Das ist doch so 'ne Scheiß-Eidechse.»
    Roadrunner zuckte die Achseln. «Wir hätten wieder ein Tier im
    Namen. Ich finde ihn jedenfalls gut.»
    Harley öffnete die große hydraulische Tür und stapfte entrüstet
    die Stufen hinauf. «Wenn das die Richtung ist, die dir vorschwebt, dann sollten wir die Firma ‹Blödhammel› nennen, und zwar nach
    dir.»
    Schmollend stieg Roadrunner hinter ihm die Stufen hinauf,
    vergaß aber in dem Moment seinen verletzten Stolz, als er in das
    plüschige Innere trat und sich umschaute. Dicke, butterweiche
    Teppiche bedeckten den Boden, Polstersofas mit Daunenkissen
    gruppierten sich um einen glänzenden Holztisch wie mit Seide
    bezogene Marshmallows. Die geräumige Küche verfügte über
    Arbeitsplatten aus Granit und blitzende Chromarmaturen, und
    überall war poliertes Teakholz verarbeitet.
    Harley kreuzte die Arme über dem massigen Brustkorb, ein
    Grinsen Größe XXL auf den Lippen. «Also, was sagst du dazu, mein
    Kleiner? Sieht eher nach Buckingham Palace aus als nach einem
    fahrbaren Untersatz, hm?»
    Roadrunners Augen waren aufgerissen wie Kinderaugen unter
    dem Weihnachtsbaum.

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