Der Köder
nächsten Morgen in seiner Auffahrt wach
geworden, und die Leute im Club sagen, so geht das mit ihm fast
jede Nacht. Sieht so aus, als wäre die ganze verdammte Familie
daran zerbrochen, dass Hannah starb.»
Chief Malcherson sah hinunter auf seine Hände, und einen
Augenblick lang sagte niemand etwas.
Selbst nach einem Jahr führte die Erwähnung von Hannah
Pullmans Ermordung dazu, dass in diesem Gebäude jede
Unterhaltung zum Erliegen kam. Willkürliche Gewalttaten waren in
Minneapolis nicht unbekannt, besonders nicht in den Stadtbezirken, in denen Straßengangs ihre Revierkämpfe austrugen und unschuldige Passanten gelegentlich ins Kreuzfeuer gerieten – aber das geschah selten, und wenn, versetzte es die Stadt stets in Aufregung. Aber die Ermordung der Ehefrau eines Officers hatte einen tausendfach
stärkeren Schock hervorgerufen, und alle Polizisten waren tief
betroffen.
Manchmal wurden Polizisten umgebracht, das konnte in ihrem
Job passieren. Aber dieses Berufsrisiko durfte sich nicht auf ihre Familienmitglieder ausweiten. Der Mord an Detective Pullmans Frau war ein Alarmsignal gewesen, das allen an die Nieren ging, denn
Marty hatte bewaffnet neben Hannah gestanden, als ihr die Kehle
durchgeschnitten wurde, und war dennoch nicht in der Lage
gewesen, sie zu beschützen. Danach mussten sie alle sich
vergegenwärtigen, dass ihre Familien ein wenig verwundbarer
geworden waren, und sie kamen sich ein wenig hilfloser vor. Die
traurige Wahrheit bestand jedoch darin, dass viele von ihnen Marty die Verantwortung zuschoben.
Warum hat er den Dreckskerl nicht erschossen, als sich ihm die Möglichkeit dazu bot?
Magozzi hatte diese Frage in den Monaten nach dem Mord in der
Umgebung der City Hall wohl hundert Mal gehört, und sie hatte bei ihm stets einen schlechten Nachgeschmack hinterlassen, besonders
wenn sie von Gino gekommen war.
«Hat einer von Ihnen Hannah gekannt?», fragte Chief
Malcherson.
Magozzi schüttelte den Kopf. «Nur so gut, dass man sich auf dem
Flur grüßte. Sie kam manchmal, um Marty abzuholen.»
«Mir geht Mrs. Gilbert nicht aus dem Sinn. Erst ihre Tochter und
dann ihr Mann, beide innerhalb eines Jahres ermordet. Ich weiß
nicht, wie man so etwas überstehen kann.»
«Werden Sie nur nicht zu sentimental, was die alte Dame
betrifft», sagte Gino. «Sie hat bisher kein Alibi.»
«Gino empfindet nicht viel Sympathie für Mrs. Gilbert»,
erläuterte Magozzi.
«Ich kann nur keine Sympathie dafür aufbringen, dass sie an
einem Tatort Spuren vernichtet hat und auch vom Tod ihres Mannes
anscheinend nicht ernsthaft betroffen war. Hinzu kommt da die Art, wie sie sich aufgeführt hat.»
Malcherson sah ihn fragend an. «Und wie hat sie sich
aufgeführt?»
«Ziemlich feindselig, wenn Sie mich fragen. Wir tun nur unsere
Arbeit, versuchen herauszufinden, wer ihren Mann umgebracht hat,
und als ich ihr ein paar Fragen stelle, geht sie gleich auf mich los.»
Mit einem genervten Blick, den er Magozzi zuwarf, bat
Malcherson um nähere Erläuterung.
«Gino hat gefragt, ob Mr. Gilbert ‹irgendwelche ungewöhnlichen
Geschäfte› abgewickelt habe, und das hat sie gekränkt.»
«Oh.»
«Sie hat ihn richtig angefaucht.»
«Aha.» Malcherson sah jetzt wieder Gino an, und einen bangen
Moment lang fürchtete Magozzi, der Chief könnte tatsächlich einmal schmunzeln. «Kurz gesagt, Sie haben also die Integrität ihres
verstorbenen Mannes in Frage gestellt, und ihre Reaktion war
weniger freundlich, als Sie glaubten, es verdient zu haben.»
Gino lief rot an, und sein Kopf schien langsam zwischen den
Schultern zu versinken. «Sie hätten dabei sein müssen.»
«Es tut mir sehr leid, dass eine alte Dame Ihre Gefühle verletzt
hat, Detective Rolseth.»
Magozzi wischte mit der Hand über sein Grinsen, was Gino nicht
entging.
«Ach, komm schon, Leo, es war doch sehr viel mehr als das, und
das weißt du auch. Irgendwas ist los mit dieser alten Schachtel.
Vergiss, dass sie keine Träne vergossen hat und ihre scharfe Zunge zu benutzen weiß. Ist sie zusammengebrochen, als sie ihren toten
Mann gefunden hat? Nein. Stattdessen lädt sie ihn auf eine
Schubkarre – eine Schubkarre, verdammt noch mal –, schiebt ihn durch die Gegend, hievt ihn auf einen dieser Gärtnereitische, spritzt ihn mit einem Gartenschlauch ab, wäscht ihn und zieht ihn dann
gesellschaftsfähig an. Das ist doch keine normal trauernde Witwe, und wenn wir uns von ihrem Auftritt einlullen lassen, verschließen
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