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Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie

Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie

Titel: Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mukherjee Siddhartha
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physisch in Los Alamos entstanden, geistig aber sei sie das Produkt der Vorkriegsphysik und -chemie, und die sei tief in Europa verwurzelt. Philosophisch gesehen sei die jetzt so gefeierte große Errungenschaft der amerikanischen Wissenschaft in den Kriegsjahren ein Import.
    Bush zog daraus den Schluss, dass zielgerichtete Strategien, im Krieg so nützlich, in Friedenszeiten nur von begrenztem Nutzen seien. »Frontalangriffe« seien im Krieg sicher vorteilhaft, die Nachkriegswissenschaft aber könne nicht auf Befehl Ergebnisse liefern. Bush plädierte also für das umgedrehte Modell wissenschaftlicher Entwicklung, bei der die Forscher völlig freie Hand hätten und Forschung ohne vorgegebene Ziele Priorität haben müsse.
    In Washington machte dieser Plan tiefen und nachhaltigen Eindruck. 1950 wurde die National Science Foundation (NSF) 9 ausdrücklich mit dem Ziel gegründet, die Autonomie der Wissenschaft zu fördern: Mit der Zeit wurde sie, wie ein Historiker sagte, die »veritable Verkörperung seines [Bushs] großen Plans, staatliche Finanzierung und wissenschaftliche Unabhängigkeit miteinander in Einklang zu bringen«. In der NSF und infolgedessen auch an den National Health Institutes breitete sich rasch eine ganz neue Forschungskultur aus: »langfristig angelegte Grundlagenforschung 10 statt eng umgrenzter Suche nach Therapie und Prävention«.
    Den Laskeriten drohte damit ein Konflikt. Sie waren ja der gegenteiligen Meinung: dass ein Krieg gegen den Krebs genau die Art von Konzentration und uneingeschränktem Einsatz erfordere, der in Los Alamos mit so überzeugendem Ergebnis vorgeführt worden war. Der Zweite Weltkrieg hatte die medizinische Forschung mit neuen Problemen und neuen Lösungen überhäuft; der Krieg war Ursache für die Entwicklung neuartiger Wiederbelebungstechniken, für Forschungsarbeiten über Blut und Experimente mit tiefgefrorenem Plasma, für Erkenntnisse über die Rolle der Corticosteroide bei Schock und die Blutversorgung des Gehirns und des Herzens. Noch nie in der Geschichte der Medizin hatte es, wie A. N. Richards, Vorsitzender des Forschungsausschusses für Medizin, es ausdrückte, »derart viel koordinierte medizinische Forschung« 11 gegeben.
    Die Laskeriten waren erfüllt vom Glauben an ein gemeinsames Ziel und koordinierte Zusammenarbeit: Sie wollten ein Manhattan-Projekt gegen den Krebs. Und sie waren zunehmend der Meinung, dass es nicht länger nötig sei zu warten, bis grundlegende Fragen im Zusammenhang mit Krebs gelöst seien, um das Problem frontal anzugehen. Schließlich hatte sich auch Farber fast ohne Vorwissen darüber, wie Aminopterin in gesunden Zellen, geschweige denn in kranken wirkte, durch die ersten klinischen Leukämiestudien gearbeitet. Oliver Heaviside, englischer Mathematiker, der 1925 starb, schrieb scherzhaft über einen Wissenschaftler, der am Esstisch sitzt und sinniert: »Soll ich das Essen ablehnen, weil ich das Verdauungssystem nicht verstehe?« 12 Auf Heavisides Frage hätte Farber mit einer Gegenfrage geantwortet: Soll ich es ablehnen, gegen den Krebs zu kämpfen, weil ich seine grundlegenden Mechanismen auf zellularer Ebene noch nicht durchschaue?
    Andere Wissenschaftler bekundeten ebenfalls ihre Frustration. Stanley Reimann, Pathologe in Philadelphia, sagte es unverblümt: 13 »Alle, die gegen den Krebs kämpfen, müssen ihre Arbeit auf absehbare Ziele ausrichten, und zwar nicht nur weil sie ›interessant‹ sind, sondern weil uns das der Lösung des Krebsproblems näher bringt.« Bushs Plädoyer für ergebnisoffene, von der Neugier gelenkte Forschung – »interessante« Wissenschaft – habe sich zum Dogma verhärtet. Im Kampf gegen den Krebs müsse das Dogma gekippt werden.
    Der erste, bahnbrechende Schritt in diese Richtung war die Schaffung einer Einrichtung, die speziell die Aufgabe hatte, neue Medikamente gegen den Krebs zu finden. 1954, nach einem neuerlichen Vorstoß politischer Lobbyarbeit seitens der Laskeriten, erteilte der Senat dem NCI den Auftrag, ein Programm zu entwickeln, mit dem gezielt nach chemotherapeutischen Wirkstoffen gesucht werde: 1955 arbeitete das Cancer Chemotherapy National Service Center (CCNSC) 14 auf Hochtouren. Zwischen 1954 und 1964 wurden hier 82 700 synthetische Substanzen, 115 000 Fermentationsprodukte und 17 200 Pflanzenderivate getestet und jährlich knapp eine Million Mäuse mit verschiedenen Substanzen behandelt, um ein ideales Medikament zu finden.
    Farber war ekstatisch, 15 aber ungeduldig.

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