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Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie

Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie

Titel: Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mukherjee Siddhartha
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Fachärzte in Ausbildung, Krankenpfleger, Sozialarbeiter, Psychiater, Ernährungsberater, Pharmazeuten. Krebs, sagte er, sei eine alles umfassende Krankheit, die den Patienten nicht nur körperlich im Griff habe, sondern auch seelisch, sozial und emotional. Nur mit einem mehrgleisigen, multidisziplinären Angriff bestehe überhaupt eine Chance, die Krankheit zu bekämpfen. »Rundumbetreuung« nannte er das Konzept.
    Abbildung 11
    Doch trotz aller Bemühungen um die Kinder schlich der Tod gnadenlos durch die Stationen. Im Winter 1956, ein paar Wochen nach Davids Besuch, wurde die Klinik innerhalb kurzer Zeit gleich mehrfach heimgesucht. Die leukämiekranke Betty starb als Erste. Es folgte Jenny, die Vierjährige mit dem Teekessel. Der nächste war Teddy mit dem Retinoblastom. Eine Woche später hatte der ebenfalls an Leukämie erkrankte Axel starke Hämorrhagien im Mund und verblutete. Goldstein schrieb: »Mit der Zeit bekommt der Tod Gestalt, Form und Routine. Eltern kommen aus dem Zimmer ihres Kindes, wie sie es vielleicht tagelang regelmäßig zu einer kurzen Atempause getan haben. Eine Schwester führt sie ins kleine Büro des Doktors; der kommt herein und schließt die Tür hinter sich. Später bringt eine Schwester Kaffee. Noch später überreicht sie den Eltern eine große braune Papiertüte mit den Habseligkeiten ihres Kindes. Ein paar Minuten später, als wir wieder bei unserer Promenade sind, sehen wir ein weiteres leeres Bett. Ende .«
    Im Winter 1956, nach langem, schwerem Kampf, starb Sonjas Sohn, der dreijährige David Goldstein, in der Jimmy-Fonds-Klinik an metastasiertem Nephroblastom, nachdem er die letzten Stunden seines Lebens wimmernd und delirierend unter einer Sauerstoffmaske verbracht hatte. Sonja Goldstein verließ das Krankenhaus mit ihrer eigenen braunen Papiertüte, in der die Sachen ihres Kindes lagen.
    Aber Farber ließ sich nicht beirren. Das chemotherapeutische Arsenal, das jahrhundertelang leer gewesen war, hatte sich mit neuen Medikamenten gefüllt, und diese Entdeckungen eröffneten gewaltige Möglichkeiten: Man konnte Wirkstoffe umstellen und kombinieren, konnte die Dosis und den Zeitplan verändern, konnte klinische Studien mit einer Kombination von zwei, drei, vier verschiedenen Wirkstoffen durchführen. Zumindest im Prinzip bestand die Möglichkeit, Krebs mit einer bestimmten Substanz noch einmal zu behandeln, wenn eine andere versagt hatte, oder zwei verschiedene Kombinationen nacheinander auszuprobieren. Das ist nicht das »Ende« , sagte sich Farber immer wieder mit verbissener Überzeugung. Es war erst der Anfang eines totalen Angriffs.
    In ihrem Krankenhausbett im vierzehnten Stock war Carla Reed noch immer »in Isolation« in einem kühlen, sterilen Raum eingesperrt, wo sogar die Luftmoleküle mit Dutzenden Filtern gesiebt wurden. Der Stoff ihrer Kleidung war vom Geruch antiseptischer Seife durchdrungen. Ab und zu lief der Fernseher. Das Essen kam auf einem Tablett und trug aufmunternde, optimistische Namen – Herzhafter Kartoffelsalat oder Huhn Kiew –, aber alles schmeckte wie zu Tode gekocht. (Was auch der Fall war; das Essen musste sterilisiert werden, bevor es in Carlas Zimmer gebracht werden durfte.) Carlas Mann, ein Computeringenieur, kam jeden Nachmittag und saß an ihrem Bett. Ginny, die Mutter, verbrachte die Tage sich mechanisch vor und zurück wiegend auf ihrem Stuhl, so wie ich sie am ersten Tag erlebt hatte. Wenn Carlas Kinder mit Masken und Handschuhen zu Besuch kamen, weinte sie still und drehte das Gesicht zum Fenster.
    Für Carla wurde die körperliche Isolation dieser Tage zum Sinnbild einer tieferen, bedrückenderen Einsamkeit, einer psychologischen Quarantäne, die sie sehr viel schmerzlicher empfand als ihre tatsächliche Gefangenschaft. »In diesen ersten zwei Wochen bin ich ein anderer Mensch geworden«, sagte sie. »Die Frau, die in diesen Raum hineinging, und die Frau, die Wochen später wieder herauskam, waren zwei verschiedene Leute.
    Ich musste ständig an meine Chance denken, das alles hier zu überleben. Dreißig Prozent. Nachts ging mir die Zahl durch den Kopf. Nicht mal ein Drittel. Ich lag schlaflos im Bett, starrte an die Decke und dachte: Was bedeuten dreißig Prozent? Was passiert während dreißig Prozent der Zeit? Ich bin dreißig Jahre alt – ungefähr dreißig Prozent von neunzig. Wenn mir jemand bei einem Spiel eine dreißigprozentige Gewinnchance anbietet, nehme ich an?«
    Am Morgen nach Carlas Ankunft im Krankenhaus betrat ich

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