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Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie

Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie

Titel: Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mukherjee Siddhartha
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›Das kriegen wir hin.‹«
    Die Begeisterung über diese Ergebnisse war ansteckend. Auch wenn die Kombination aus Bestrahlung und Chemotherapie nicht immer eine langfristige Heilung bewirkte, war das Nephroblastom der erste metastasierende solide Tumor, der auf Chemotherapie reagierte. Farber hatte seinen lang ersehnten Sprung von »flüssigem Krebs« zu soliden Tumoren gemacht.
    Ende der fünfziger Jahre sprühte Farber vor Optimismus. Aber Besucher, die um die Mitte des Jahrzehnts in die Jimmy-Fonds-Klinik gekommen waren, mochten eine vielschichtigere, widersprüchlichere Realität wahrgenommen haben. Auf Sonja Goldstein, deren zweijähriger Sohn David 1956 mit Chemotherapie gegen den Wilms-Tumor behandelt wurde, machte die Klinik den Eindruck, als schwebte sie ständig zwischen zwei Extremen – »wunderbar und tragisch … unaussprechlich deprimierend und unbeschreiblich hoffnungsvoll«. Wenn sie die Krebsstation betrat, schrieb Goldstein später, »spüre ich eine mitreißende Strömung der Begeisterung, das Gefühl (das sich trotz wiederholter Rückschläge hartnäckig hält), man stehe an der Schwelle einer Entdeckung, was mich beinahe hoffnungsvoll stimmt.
    Wir betreten einen breiten Flur, an dessen einer Wand ein Zug aus Pappe steht. Auf halbem Weg durch den Flur ragt eine echt aussehende Ampel auf, die grün, rot und gelb leuchten kann. In die Lokomotive des Zugs kann man einsteigen, und man kann an der Glocke ziehen. Am anderen Ende der Station steht eine lebensgroße Zapfsäule mit einem Zähler für die abgegebene Benzinmenge und den Preis … Mein erster Eindruck ist der maßloser Aktivität, wuselnd wie eine Schlangengrube.«
    Es war wirklich eine Grube – aber der Krebse, eine wimmelnde Unterwasserkiste, voller Krankheit, Hoffnung und Verzweiflung. Ein etwa vierjähriges Mädchen namens Jenny malte in einer Ecke mit neuen Wachsmalkreiden. Ihre Mutter, eine attraktive, leicht erregbare Frau, behielt Jenny ständig im Blick und verfolgte jede Bewegung des Mädchens, etwa wenn es sich nach einer Kreide bückte, mit Argusaugen. Hier war nichts harmlos – alles konnte ein Zeichen, ein Symptom, ein Omen sein. Jenny, erfuhr Goldstein, »hat Leukämie und ist jetzt hier, weil sie Gelbsucht bekommen hat. Ihre Augäpfel sind immer noch gelb« – ein Anzeichen für plötzliches Leberversagen. Wie viele Patienten auf der Station nahm auch Jenny die Bedeutung ihrer Krankheit kaum wahr. Jennys einzige Sorge war ein Teekessel aus Aluminium, an dem sie sehr hing.
    »In einem Gokart im Flur sitzt ein kleines Mädchen, 19 das sich, wie mir auf den ersten Blick scheint, irgendwo ein blaues Auge geholt hat … Lucy, zwei Jahre alt, leidet an einer Form von Krebs, der sich in der Gegend hinter dem Auge ausbreitet und dort Blutungen verursacht. Sie ist kein sehr anziehendes Kind und schreit an diesem ersten Tag beinahe ununterbrochen. Ebenso Debbie, eine Vierjährige mit Engelslocken, deren Gesicht weiß und gefurcht vom Leiden ist. Sie hat dieselbe Tumorart wie Lucy – ein Neuroblastom. Allein in einem Zimmer liegt Teddy. Es dauert viele Tage, bis ich mich hineinwage, denn Teddy, blind und zum Skelett abgemagert, hat ein monströses Gesicht. Sein Tumor hat hinter dem Ohr begonnen und die eine Seite des Kopfes zerfressen, von seinen früheren Gesichtszügen ist nichts mehr übrig. Er wird durch einen Schlauch in der Nase ernährt und ist bei vollem Bewusstsein.«
    Auf der ganzen Station gab es kleine Erfindungen und Improvisationen, die Farber sich oft selbst ausgedacht hatte. Nachdem die Kinder meist zu entkräftet waren, um zu gehen, waren überall kleine hölzerne Gokarts verteilt, so dass die Patienten sich relativ frei bewegen konnten. Daran waren Infusionsstangen befestigt, damit die Chemotherapie zu jeder Tageszeit verabreicht werden konnte. »Einer der herzzerreißendsten Anblicke«, schrieb Goldstein, »ist für mich dieser kleine Gokart mit dem kleinen Kind darin, den Arm oder das Bein fest bandagiert, damit die Nadel in der Vene bleibt, und darüber ragt das Infusionsgestell mit dem Beutel daran. Es sieht aus wie ein Boot mit Mast, aber ohne Segel, das hilflos und allein durch eine raue, unerforschte See treibt.«
    Jeden Abend kam Farber auf die Stationen und trieb sein eigenes segelloses Boot energisch durch diese raue, unerforschte See. An jedem Bett blieb er stehen, machte Notizen und besprach den Fall, oft bellte er seine typisch barschen Anweisungen. Ein Schwarm von Klinikmitarbeitern folgte ihm:

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