Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie
von ihren Namen, waren die beiden Emils höchst unterschiedliche Charaktere. Freireich war fünfunddreißig, hatte kurz zuvor an der Boston University die Ausbildung zum Facharzt für Hämatologie absolviert und war heißblütig, aufgedreht, abenteuerlustig. Er sprach schnell, oft hitzig, mit dröhnender Stimme, und ließ seinen Worten häufig ein noch ausdrucksvolleres, noch dröhnenderes Gelächter folgen. Er war Assistenzarzt auf der temporeichen »Station 55« des Cook County Hospital in Chicago gewesen – und der Klinikleitung dermaßen auf die Nerven gegangen, dass sie ihn vorzeitig aus seinem Vertrag entlassen hatte. In Boston hatte er mit Chester Keefer zusammengearbeitet, einem Kollegen von Minot, der während des Kriegs für die Penizillinproduktion und -rationierung zuständig gewesen war. Antibiotika, Folsäure, Vitamine und Antifolate waren in Freireichs Seele fest verankert. Farber bewunderte er glühend – nicht nur den akribischen akademischen Wissenschaftler, sondern auch den respektlosen, impulsiven, überlebensgroßen Farber, der seine Gegner so rasch gegen sich aufbringen konnte, wie er seine Wohltäter für sich einnahm. »In gleichmütiger Stimmung habe ich Freireich nie erlebt«, 4 sagte Frei später über ihn.
Wäre Freireich ein Charakter in einem Film gewesen, so hätte man ihm zweifellos seinen filmischen Gegenpart an die Seite gestellt, einen Laurel für seinen Hardy oder einen Felix für seinen Oscar, und so war es auch im wirklichen Leben. Der große dünne Mann, der ihm an diesem Tag in seinem vermeintlichen Büro entgegentrat, war dieses Gegenstück. Wo Freireich voreilig und schroff war, bei einem Fehler die Beherrschung verlor und Leidenschaft noch für Details aufbrachte, war Frei kühl, gefasst und zurückhaltend, ein ausgeglichener Verhandler, einer, der lieber im Hintergrund wirkte. Emil Frei, den die meisten seiner Kollegen mit seinem Spitznamen Tom anredeten, war in den dreißiger Jahren Kunststudent in St. Louis gewesen und hatte sich erst Ende der Vierziger, als Spätberufener, der Medizin zugewandt, hatte dann im Koreakrieg bei der Marine gedient und war zu seiner fachärztlichen Ausbildung nach St. Louis zurückgekehrt. Er war charmant, einnehmend und bedächtig, ein Mann weniger, aber sorgfältig gewählter Worte. Wer ihm zusah, wie er mit schwerkranken Kindern und ihren aufgeregten, reizbaren Eltern umging, meinte einen Meisterschwimmer durchs Wasser gleiten zu sehen – einer, der vollkommen in seinem Element ist.
Der Mann, der die zwei Emils nach Bethesda geholt hatte, war Gordon Zubrod, der neue Leiter des Klinikzentrums im NCI. 5 Intellektuell, besonnen und eindrucksvoll, ein Kliniker und Wissenschaftler von königlicher Contenance, war Zubrod ans NIH gekommen, nachdem er zehn Jahre lang, insbesondere während des Zweiten Weltkriegs, Medikamente gegen die Malaria entwickelt hatte, eine Erfahrung, die sein frühes Interesse an klinischen Versuchsreihen in der Krebsmedizin prägte.
Zubrods besonderes Interesse galt der Leukämie bei Kindern, dem Krebs, den Farber an die vorderste Front der klinischen Forschung geholt hatte. Aber er wusste auch, was es hieß, gegen die Leukämie zu kämpfen: dass man es mit einem hitzigen, schwierigen, launischen, unvorhersehbaren Gegner zu tun hatte. Medikamente konnte man testen, aber zuallererst galt es, die Kinder am Leben zu erhalten. Als vorbildlicher Delegator – Freireich nannte ihn einmal einen »Eisenhower der Krebsforschung« – rekrutierte Zubrod rasch zwei junge Ärzte als Kämpfer an der Front, Freireich und Frei, beide frisch gekürte Fachärzte aus Boston beziehungsweise St. Louis. Frei fuhr in einem ramponierten alten Studebaker quer durchs Land zu ihm, Freireich kam ein paar Wochen später 6 in einem nicht minder ramponierten Oldsmobile, in dem er sein gesamtes Hab und Gut, seine schwangere Gattin und seine neun Monate alte Tochter mitbrachte.
Es hätte ohne weiteres ein Desaster werden können, aber es kam anders. Von Anfang an stellten die zwei Emils fest, dass sie ausgezeichnet zusammenarbeiteten und das Ganze mehr war als die Summe seiner Teile. Das Gespann spiegelte den tiefen intellektuellen Graben wider, der quer durch die Onkologie verlief, nämlich übertriebene Vorsicht einerseits und waghalsige Experimentierfreude auf der anderen Seite. Jedes Mal, wenn Freireich zu forsch voranstürmte – und dabei oft sich und seine Patienten an den Rand der Katastrophe brachte –, hielt Frei ihn zurück und
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