Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie
mit einem Stapel von Papieren ihr Zimmer. Das waren die Formulare, mit denen sie ihre Zustimmung zur Chemotherapie erteilen musste, damit wir sofort anfangen konnten, ihren Körper mit Gift vollzupumpen, um die Krebszellen zu vernichten.
Die Chemotherapie, die für sie vorgesehen war, bestand aus drei Phasen. Die erste sollte etwa einen Monat dauern. Die ihr in kurzen Abständen verabreichten Zytostatika würden hoffentlich eine anhaltende Remission der Leukämie bewirken. Auf jeden Fall würden sie dabei auch die noch gesunden weißen Blutkörperchen vernichten. Ein paar kritische Tage lang befände sie sich im anfälligsten Zustand, den die moderne Medizin herbeiführen kann, und wäre ohne jedes Immunsystem, schutzlos der Umgebung ausgeliefert.
Danach würden wir über ein paar Monate hinweg die Remission, falls sie denn eintrat, »konsolidieren« und intensivieren. Das bedeutete weitere Chemotherapie, allerdings geringer dosiert und in größeren Abständen verabreicht. Carla konnte dann nach Hause zurückkehren und musste nur einmal in der Woche zur Infusion ins Krankenhaus kommen. Für die Phase der Konsolidierung und Intensivierung waren mindestens acht Wochen vorgesehen.
Das vielleicht Schlimmste sagte ich ihr erst zum Schluss. Akute lymphatische Leukämie hat die hässliche Neigung, sich ins Gehirn zurückzuziehen. Selbst in stärkster Dosierung konnte die intravenöse Chemotherapie, die wir Carla verabreichten, nicht in die Zisternen und Ventrikel ihres Gehirns vordringen, denn dies verhindert die Blut-Hirn-Schranke, die im Wesentlichen das Gehirn zu einer »Zuflucht« für Leukämiezellen macht (ein unseliges Wort, weil es impliziert, dass der eigene Körper dem Krebs womöglich Vorschub leistet). Um diese Zuflucht zu stürmen, mussten die Wirkstoffe über mehrere Lumbalpunktionen direkt in Carlas Rückenmarkflüssigkeit injiziert werden. Daneben sollte eine prophylaktische Bestrahlung des gesamten Gehirns mit tief eindringenden Röntgenstrahlen, die direkt am Schädel ansetzt, die Ausbreitung der Leukämie im Kopf verhindern. Und danach würden über einen Zeitraum von zwei Jahren weitere Chemotherapien folgen, um die Remission, falls sie eintrat, zu »erhalten«.
Einleitung. Intensivierung. Erhalt. Heilung. Ein Bleistiftpfeil verband die vier Punkte auf dem ansonsten leeren Blatt Papier. Carla nickte.
Als ich die Lawine der Zytostatika mit ihr durchging, mit der sie im Verlauf der nächsten zwei Jahre behandelt würde, sprach sie mir die Namen leise nach, wie ein Kind, das einen neuen Zungenbrecher lernt: »Cyclophosphamid, Cytarabin, Prednison, Asparaginase, Adriamycin, Tioguanin, Vincristin, 6-Mercaptopurin, Methotrexat.«
»DIE METZGEREI«
Randomisierte Screeningstudien sind lästig. 1
Es dauert Ewigkeiten, um zu einer Antwort zu gelangen,
und es müssen groß angelegte Projekte sein,
damit man in der Lage ist, die Fragen zu beantworten.
[Aber] … eine zweitbeste Lösung gibt es nicht.
H. J. de Koning,
Annals of Oncology , 2003
Die besten [Ärzte] scheinen einen sechsten Sinn für Krankheit zu haben. 2
Sie erahnen sie, wissen, wenn sie da ist, erkennen ihre Schwere,
bevor irgendein intellektueller Prozess sie definieren, einordnen und
in Worte fassen kann. Auch die Patienten scheinen diese Begabung
an einem Arzt zu spüren: dass er aufmerksam, wach, bereit ist;
dass er mit dem Herzen bei der Sache ist. Jeder Medizinstudent
sollte so eine Begegnung einmal miterleben. Von allen Augenblicken in der
Medizin ist dieser am meisten erfüllt von Dramatik, Gefühl, Geschichte.
Michael LaCombe,
Annals of Internal Medicine , 1993
In Bethesda, am selben Institut, das man in den vierziger Jahren mit einem vorstädtischen Golfclub verglichen hatte, wurde das neue Arsenal der Onkologie am lebenden Patienten angewandt.
Im April 1955, es war ein feuchter Frühling in Maryland, ging Emil Freireich, der an diesem Tag seine neue Stelle als Forscher am National Cancer Institute antrat, zu dem ihm zugewiesenen Büro im Backsteinbau des Klinikzentrums und stellte empört fest, dass sein Name an der Tür verstümmelt worden war, die zweite Silbe fehlte: EMIL FREI, MD, stand dort. »Mein erster Gedanke war natürlich: Das ist ja wieder mal typisch staatliche Institution!«
Es war kein Schreibfehler. 3 Als Freireich eintrat, stand er unversehens einem großen dünnen jungen Mann gegenüber, der sich als Emil Frei vorstellte. Freireichs Büro, mit korrektem Namensschild, war gleich nebenan.
Abgesehen
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