Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie
Flemming ursprünglich vorgestellt hatten. Die zweite ist funktional: Man kann sich Gene, wie Mendel es tat, als Erbeigenschaften vorstellen, die von einer Generation an die nächste weitergegeben werden. In den zehn Jahren zwischen 1970 und 1980 begann die Krebsgenetik sich diese beiden Perspektiven anzueignen. Beide Betrachtungsweisen erweiterten das mechanistische Verständnis der Karzinogenese und brachten die Forscher dem Verständnis der molekularen Aberration, die im Zentrum von Krebs steht, immer näher.
Die Struktur – die Anatomie – kam zuerst. 1973, als Varmus und Bishop mit ihren ersten Studien zu Src begannen, sah die Hämatologin Janet Rowley in Chicago ein menschliches Krebsgen in physischer Form. Rowleys Spezialgebiet 2 war die Untersuchung der Färbemuster von Chromosomen in Zellen, um daran Chromosomenaberrationen in Krebszellen zu lokalisieren. Das Einfärben von Chromosomen, eine Technik, die sie perfektioniert hatte, ist nicht nur eine Wissenschaft, sondern auch eine Kunst – und eine eigenartig anachronistische Kunst obendrein, wie das Malen mit Temperafarben im Zeitalter des Digitaldrucks. Zu einem Zeitpunkt, als die Krebsgenetik losrannte, um die Welt der RNA, der Tumorviren und Onkogene zu erforschen, war Rowley damit beschäftigt, die Disziplin zu ihren Wurzeln zurückzuführen, zu Boveris und Flemmings blau gefärbten Chromosomen. Und um einem Anachronismus einen zweiten hinzuzufügen, suchte sie sich als Studienobjekt die chronisch-myeloische Leukämie (CML) aus, Bennetts berüchtigte »Vereiterung des Blutes«.
Rowleys Studie baute auf der Arbeit zweier Pathologen aus Philadelphia auf, die sich ebenfalls mit CML beschäftigt hatten. Ende der 1950er Jahre hatten Peter Nowell und David Hungerford 3 bei dieser Form von Leukämie ein ungewöhnliches Chromosomenmuster entdeckt: In allen Krebszellen fand sich durchgehend ein verkürztes Chromosom. Die menschlichen Zellen enthalten sechsundvierzig Chromosomen – dreiundzwanzig gleichartige Paare, die jeweils vom einen und vom anderen Elternteil stammen. In CML-Zellen, stellte Nowell fest, fehlt dem einen Exemplar des zweiundzwanzigsten Chromosoms der »Kopf«. Die Anomalie nannte Nowell, nach dem Ort der Entdeckung, das Philadelphia-Chromosom. Aber Nowell und Hungerford konnten nicht sagen, wo das enthauptete Chromosom herkam und wohin der fehlende »Kopf« verschwunden war.
Rowley führte die Untersuchung von Nowell und Hungerford fort und begann dem kopflosen Chromosom in ihren CML-Zellen nachzuspüren. Sie legte sorgfältig eingefärbte Fotografien von vieltausendfach vergrößerten CML-Chromosomen aus – meistens auf ihrem Esstisch, wo sie sich dann über die Bilder beugte und sie nach dem fehlenden Stück des berüchtigten Philadelphia-Chromosoms absuchte, und schließlich entdeckte sie ein konsistentes Muster. Der fehlende Kopf von Chromosom 22 hatte sich an der Spitze von Chromosom 9 angeheftet. Und umgekehrt hatte sich ein Stück von Chromosom 9 an Chromosom 22 geheftet. Diesen genetischen Vorgang nennt man reziproke Translokation: ein wechselseitiger Stückaustausch zwischen nichthomologen Chromosomen.
Rowley nahm sich zahlreiche Fälle von CML-Patienten vor, und in jedem einzelnen Fall fand sie die gleiche Translokation in den Zellen. Chromosomenaberrationen bei Krebszellen waren seit von Hansemann und Boveri bekannt. Aber Rowleys Ergebnisse waren viel tiefgreifender: Krebs ist nicht ein ungeordnetes Chromosomenchaos. Er ist ein geordnetes Chromosomenchaos: Bei bestimmten Krebsarten liegen spezifische und identische Mutationen vor.
Aus Chromosomentranslokationen können neue Gene hervorgehen, die man Chimären nennt: Zwei Gene, die früher auf zwei verschiedenen Chromosomen lokalisiert waren, vereinigen sich miteinander – zum Beispiel vereinigt sich der »Kopf« von Chromosom 9 mit dem »Schwanz« von Chromosom 13. Aus der CML-Translokation sei eine solche Chimäre hervorgegangen, postulierte Rowley. Sie kannte weder die Identität noch die Funktion des neuen Gebildes, aber sie hatte bewiesen, dass eine neue, einzigartige genetische Änderung – die, wie sich später erwies, ein Onkogen ist – in einer menschlichen Krebszelle existieren konnte und sich ausschließlich aufgrund einer abweichenden Chromosomenstruktur gezeigt hatte.
In Houston »sah« Alfred Knudson, ein am Caltech ausgebildeter Genetiker, Anfang der siebziger Jahre ebenfalls ein krebsverursachendes Gen, allerdings in einem wieder anderen
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