Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie
hohen Anteil am Verdienst für sich beanspruchte. 1932, nachdem er mit seinem Labor nach Texas gezogen war, ging er mit einem Röhrchen Schlaftabletten in den nächsten Wald und versuchte sich umzubringen. Er überlebte, war aber fortan von Ängsten und Depressionen gequält, und seine wissenschaftliche Produktivität erlosch in späteren Jahren.
Morgan seinerseits blieb hartnäckig pessimistisch hinsichtlich der Bedeutung der Arbeit an Fruchtfliegen für das Verständnis menschlicher Krankheiten. 1933 erhielt er für seine weitreichende Arbeit über die Genetik der Fruchtfliege den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin (wie übrigens auch Muller: Dieser erhielt ihn, unabhängig davon, im Jahr 1946). Dennoch schrieb Morgan in selbstkritischem Ton über die Bedeutung seiner Arbeit: »Der wichtigste Beitrag zur Medizin, den die Genetik geleistet hat, ist meiner Meinung nach ein geistiger.« Eine Annäherung von Medizin und Genetik stellte er sich allenfalls in ferner Zukunft vor. »Vielleicht«, spekulierte er, »wird der Arzt dann Rücksprache mit befreundeten Genetikern halten!« 17
Aber den Onkologen der 1940er Jahre schien eine solche »Rücksprache« sehr weit hergeholt. Nach Boveri war die Suche nach einer inneren, genetischen Krebsursache zum Stillstand gekommen. Zwar war in Krebsgewebe eine gestörte, krankhafte Zellkernteilung zu sehen. Doch weder Genetiker noch Embryologen vermochten die entscheidende Frage zu beantworten: Was ist die Ursache dafür, dass der so hervorragend regulierte Prozess der Zellkernteilung plötzlich ins Chaos abgleitet?
Mehr noch – es fehlte an biologischer Vorstellungskraft. Boveris Denken war so akrobatisch von Seeigeln zu Karzinomen gesprungen wie Morgan von den Erbsen zu den Fruchtfliegen, was nicht zuletzt daran lag, dass die Biologie selbst von einem Organismus zum nächsten sprang, als sie systematische Baupläne in der Zelle fand, die sich durch die gesamte lebende Welt ziehen. Aber dieselben Baupläne auf menschliche Krankheiten anzuwenden war, wie sich gezeigt hatte, eine ungleich schwierigere Aufgabe. An der Columbia University hatte Morgan eine hübsche Sammlung mutierter Fruchtfliegen angelegt, aber nicht eine ähnelte auch nur im Entferntesten einem realen menschlichen Leiden. Die Vorstellung, ein Krebsarzt könnte einen »befreundeten Genetiker« zurate ziehen, um sich von ihm die Pathophysiologie des Krebses erklären zu lassen, schien lächerlich.
In den 1970er Jahren wandten sich die Krebsforscher abermals der Sprache der Gene und ihrer Mutationen zu. Aber die Reise zurück zu dieser Sprache – und dem eigentlichen »gemeinsamen« Ursprung von Krebs – nahm einen verwirrenden Umweg über das Terrain der neuen Biologie; und sie brauchte weitere fünfzig Jahre.
DER WIND IN DEN BÄUMEN
Der zarte, zarte Wind, 1 der seinen Weg durchs Chaos der Welt nimmt
Wie ein feiner, ein erlesener Meißel, eine Rasierklinge …
D. H. Lawrence
Die Entwicklungen im Sommer 1976 brachten eine radikale Neuorientierung der Krebsbiologie mit sich und rückten die Gene wieder in den Mittelpunkt. Harold Varmus’ und Michael Bishops Annahme der Protoonkogene lieferte die erste zwingende, umfassende Theorie zur Karzinogenese.
Die Theorie erklärte, wie es kommt, dass Strahlung, Ruß und Zigarettenrauch, sehr unterschiedliche und scheinbar nicht zusammenhängende Schädigungen, alle Krebs auslösen können, nämlich durch Umbau und damit Aktivierung von Vorläufer-Onkogenen innerhalb der Zelle. Die Theorie erklärte Bruce Ames’ sonderbare Korrelation zwischen Karzinogenen und Mutagenen: Chemische Substanzen, die Mutationen in der DNA verursachen, führen Krebs herbei, weil sie zellulare Protoonkogene verändern. Die Theorie klärte, warum ein und dieselbe Krebsart bei Rauchern und Nichtrauchern auftreten kann, wenn auch mit unterschiedlicher Häufigkeit: Beide, Raucher wie Nichtraucher, tragen in ihren Zellen die gleichen Protoonkogene, aber Raucher erkranken häufiger an Krebs, weil die Karzinogene im Tabak die Mutationsrate der Gene erhöhen.
Wie aber sahen Krebsgene aus? Tumorvirologen hatten Src in Viren und dann in Zellen gefunden, aber zweifellos waren noch weitere endogene Protoonkogene im Genom der menschlichen Zellen versteckt.
Die Genetik kennt zwei unterschiedliche Arten, Gene zu »sehen«. Die erste ist strukturell: Gene können als physische Strukturen betrachtet werden – auf den Chromosomen aneinandergereihte DNA-Abschnitte, wie sie sich Morgan und
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