Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie
Krebsart hätte man naiverweise annehmen können, dass der Krebs jedes Patienten seine eigene Sequenz von Genmutationen und einzigartige Kombination mutierter Gene hätte. Doch Vogelstein stellte ein bemerkenswert übereinstimmendes Muster fest: Über viele Gewebeproben und viele Patienten hinweg entsprachen den jeweiligen Übergängen bei den Krebsstadien stets die gleichen Übergänge bei den genetischen Veränderungen. Die Krebszellen aktivierten beziehungsweise inaktivierten Gene nicht aufs Geratewohl. Vielmehr ließ sich die Verschiebung vom prämalignen Zustand zum invasiven Krebs exakt mit der Genaktivierung beziehungsweise -inaktivierung in exakter und stereotyper Abfolge korrelieren.
1988 schrieb Vogelstein im New England Journal of Medicine : »Die vier molekularen Veränderungen 2 akkumulierten in einer Weise, die der klinischen Progression der Tumoren entsprach.« Er äußerte die Vermutung: »In einem frühen Stadium des neoplastischen Prozesses scheint eine einzelne Kolonzelle über ihre Umgebung hinauszuwachsen und eine kleine, gutartige Neoplasie zu bilden. Während diese Zellen wachsen, tritt häufig eine Mutation im Ras -Gen ein. Schließlich kann ein Verlust von Tumorsuppressorgenen … mit der Entwicklung vom Adenom zum eindeutigen Krebs in Verbindung gebracht werden.«
Nachdem Vogelstein mit seinen vier Genen eine Vorauswahl getroffen hatte, konnte er nicht sagen, wie viele Gene insgesamt für die Entwicklung zum Krebs erforderlich waren. (Das war mit der 1988 zur Verfügung stehenden Technologie noch nicht möglich; er musste zwei Jahrzehnte warten, bis diese Analyse vorgenommen werden konnte.) Aber er hatte einen wichtigen Beweis erbracht: Dieser genetische Vormarsch existierte tatsächlich. Papanicolaou und Auerbach hatten den pathologischen Übergang zu Krebs als einen Prozess in vielen Schritten beschrieben, der mit einer Präkanzerose beginnt und unerbittlich auf invasiven Krebs zumarschiert. Vogelstein zeigte nun, dass auch der genetische Verlauf von Krebs ein Prozess in vielen Schritten ist.
Das war eine Erleichterung. In dem Jahrzehnt zwischen 1980 und 1990 waren Protoonkogene und Tumorsuppressorgene in derart atemberaubender Zahl im menschlichen Genom entdeckt worden – bei der letzten Zählung waren es rund einhundert –, dass die schiere Menge eine verstörende Frage aufwarf: Wenn das Genom derart übersät von diesen maßlosen Genen ist, die nur darauf warten, wie mit dem Umlegen eines Schalters eine Zelle auf den Weg in den Krebs zu schicken, warum bricht dann im menschlichen Körper nicht jede Minute ein neuer Krebs aus?
Krebsgenetiker kannten bereits zwei Antworten auf diese Frage. Erstens müssen Protoonkogene durch Mutationen erst einmal aktiviert werden, und Mutationen sind seltene Ereignisse. Zweitens müssen Tumorsuppressorgene inaktiviert werden, aber typischerweise gibt es von jedem Tumorsuppressorgen in jeder Zelle noch ein zweites Exemplar, so dass zwei voneinander unabhängige Mutationen erforderlich sind, um ein Tumorsuppressorgen außer Kraft zu setzen – das kommt noch seltener vor. Vogelstein gab nun die dritte Antwort: Die Aktivierung beziehungsweise Inaktivierung eines beliebigen Gens, postulierte er, stellt nur die ersten Schritte der Krebsentstehung dar. Der Vormarsch des Krebses ist langsam und langwierig und verläuft über viele Mutationen in vielen Genen bei vielen Zellteilungen. Genetisch gesprochen, stehen unsere Zellen nicht am Rand des Abgrunds und drohen abzustürzen. Sie werden hinabgezogen: langsam, in einzelnen Schritten.
Während Bert Vogelstein das langsame Marschieren des Krebses von einer Genmutation zur nächsten beschrieb, gingen Krebsbiologen der Frage nach, welche Funktionen diese Mutationen erfüllen. Was Mutationen von Krebsgenen bewirken, lässt sich ganz einfach in zwei Kategorien einteilen: Entweder sie aktivieren Protoonkogene oder sie inaktivieren Tumorsuppressorgene. Aber Krebszellen teilen sich nicht nur, auch wenn entfesselte Zellteilung das pathologische Kennzeichen von Krebs ist; sie wandern darüber hinaus durch den Körper, zerstören andere Gewebe, befallen Organe, bilden Kolonien in weit abgelegenen Regionen. Um das gesamte Krankheitsbild von Krebs zu verstehen, mussten die Biologen Genmutationen in Krebszellen mit deren komplexem und facettenreichem abnormem Verhalten in Zusammenhang bringen.
Gene codieren Proteine, und Proteine wirken wie kleine Molekularschalter, die andere Proteine aktivieren und wieder andere
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