Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie
inaktivieren, indem sie die molekularen Schalter in einer Zelle auf »ein« und »aus« stellen. So kann für jedes dieser Proteine ein begriffliches Diagramm gezeichnet werden: Protein A schaltet B ein, das C ein- und D ausschaltet, woraufhin wiederum E eingeschaltet wird und so weiter. Diese molekulare Kaskade nennt man Signalweg oder Signalnetzwerk. Das Netzwerk ist in der Zelle ständig aktiv, leitet Signale weiter und unterbricht sie und ermöglicht der Zelle damit, in ihrer Umgebung zu funktionieren.
Protoonkogene und Tumorsuppressorgene, fanden die Krebsbiologen heraus, sitzen an den Knotenpunkten dieser Signalnetzwerke. Ras zum Beispiel aktiviert das Protein Mek, Mek wiederum aktiviert Erk, das über mehrere Zwischenschritte letztlich die Zellteilung beschleunigt. Die Aufeinanderfolge verschiedener Schritte, genannt Ras -Mek-Erk-Weg, ist in normalen Zellen streng geregelt und sorgt auf diese Weise für eine ebenso streng geregelte Zellteilung. In Krebszellen aktiviert Ras chronisch und andauernd Mek, das andauernd Erk aktiviert, was zu einer unkontrollierten Zellteilung führt – zu pathologischer Mitose.
Aber der aktivierte Ras -Weg ( Ras →Mek→Erk) ist nicht nur Ursache einer beschleunigten Zellteilung, sondern kreuzt sich auch mit anderen Wegen und ermöglicht damit andere »Verhaltensweisen« der Krebszelle. Am Bostoner Kinderkrankenhaus demonstrierte in den neunziger Jahren der Chirurg und Wissenschaftler Judah Folkman, dass bestimmte aktivierte Signalwege innerhalb der Krebszelle, darunter Ras , auch benachbarte Blutgefäße zum Wachstum veranlassen können. Ein Tumor kann sich somit eine eigene Blutzufuhr »zulegen«, 3 indem er heimtückisch ein Kapillarnetz in seiner Umgebung anzapft, das er dann in traubenförmigen Clustern umwächst – ein Phänomen, das Folkman Tumorangiogenese nannte.
Stan Korsmeyer, Folkmans Kollege in Harvard, 4 entdeckte andere aufgrund von mutierten Genen aktivierte Signalwege in Krebszellen, die das Zelltod-Signal blockieren, so dass die entsprechende Zelle nicht abstirbt. Wieder andere Signalwege machen Krebszellen beweglich, so dass sie sich von einem Gewebe in ein anderes fortbewegen können – das ist der Beginn der Metastasierung. Und wiederum andere Genkaskaden verbessern die Überlebensfähigkeit von Zellen in feindlicher Umgebung, so dass Krebszellen, die in der Blutbahn zirkulieren, in andere Organe eindringen können, ohne von einer Umgebung, die nicht für sie geschaffen ist, zurückgewiesen oder zerstört zu werden.
Kurz gesagt, Krebs ist nicht nur genetischen Ursprungs; er ist in seiner Gesamtheit genetisch. Abnorme Gene steuern alle Aspekte seines Verhaltens. Kaskaden anomaler Signale, die von mutierten Genen herrühren, breiten sich durch die Krebszelle aus und fördern ihr Überleben, beschleunigen ihr Wachstum, verleihen ihr Beweglichkeit, eignen sich Blutgefäße an, verbessern ihre Ernährung, holen sich Sauerstoff – mit anderen Worten, halten den Krebs am Leben.
Vor allem sind diese Genkaskaden Perversionen der Signalwege, die der Körper unter normalen Umständen benutzt. Die von Krebszellen aktivierten »Beweglichkeitsgene« zum Beispiel sind dieselben, die normalen Zellen erlauben, sich durch den Körper zu bewegen, etwa wenn das Immunsystem einen Infektionsherd bekämpfen muss. Die Tumorangiogenese nutzt dieselben Signalwege, die für die Bildung neuer Blutgefäße bei der Wundheilung erforderlich sind. Nichts ist erfunden, nichts kommt von außen. Das Leben des Krebses ist eine Nachbildung des normalen Lebens unseres Körpers, sein Dasein der pathologische Spiegel unseres eigenen Existierens. Susan Sontag warnte davor, eine Krankheit mit Metaphern zu überfrachten. Dies ist aber keine Metapher: Krebszellen sind bis in ihr innerstes molekulares Zentrum hyperaktive, fürs Überleben bestens gerüstete, angriffslustige, fruchtbare, einfallsreiche Kopien unser selbst.
Anfang der 1990er Jahre begannen Krebsbiologen ein auf die molekularen Veränderungen in Genen bezogenes Modell der Karzinogenese zu entwerfen. Zur Veranschaulichung beginnen wir mit einer normalen Zelle, sagen wir, einer Lungenzelle, die im linken Lungenflügel eines vierzigjährigen Brandschutzmonteurs sitzt. Eines Morgens im Jahr 1968 weht ein winziges Asbeststäubchen, das sich von seinen Arbeitsmaterialien gelöst hat, durch die Luft, wird eingeatmet und nistet sich in der Nähe dieser Zelle ein. Der Körper des Brandschutzmonteurs reagiert auf das Stäubchen mit einer
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