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Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie

Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie

Titel: Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie
Autoren: Mukherjee Siddhartha
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Erstmals in den fünfziger Jahren als eigene Form von Leukämie bei Erwachsenen beschrieben, zeichnet sich APL durch eine besondere Eigenschaft aus: Bei dieser Form von Krebs teilen sich die Zellen nicht nur sehr schnell, sondern stecken darüber hinaus in einem unreifen Vorläuferstadium fest. Normale weiße Blutkörperchen durchlaufen bei ihrer Entwicklung im Knochenmark mehrere Reifungsstufen, bis sie eine voll funktionierende erwachsene Zelle geworden sind. Einer dieser Zwischenschritte ist der so genannte Promyelozyt, eine Vorläuferform der Granulozyten. Typisch für APL ist die maligne Wucherung dieser unreifen Vorläufer. Normale Promyelozyten sind mit toxischen Enzymen und Granula angereichert, die dann vom reifen weißen Blutkörperchen freigesetzt werden, um Viren, Bakterien und Parasiten zu bekämpfen. (Ein Granulum, »Körnchen«, ist ein Einschluss im Zytoplasma, das Speichersubstanzen enthält.) Bei der Promyelozytenleukämie füllt sich das Blut mit giftstoffreichen Promyelozyten. Die launischen, nervösen, sprunghaften Zellen bei APL können ihre giftigen Einlagerungen ohne irgendeinen Anlass freisetzen – was entweder zu massiven Blutungen führt oder eine septische Reaktion im Körper simuliert. Bei APL tritt die krankhafte Krebswucherung also mit einer bösen Verdrehung auf: Bei den meisten Krebsarten sind Zellen im Spiel, die sich weigern, das Wachstum einzustellen; bei APL weigern sich die Krebszellen außerdem, erwachsen zu werden.
    Schon Anfang der siebziger Jahre hatte die Reifungshemmung bei APL-Zellen die Wissenschaftler bewogen, nach einer Substanz zu suchen, die eine Zellreifung erzwingt. Hunderte Wirkstoffe wurden an APL-Zellen in Reagenzröhrchen getestet, und nur einer erwies sich als brauchbar – Retinsäure, eine oxidierte Form von Vitamin A. Aber Retinsäure, so stellte sich heraus, war ein ärgerlich unzuverlässiges Reagens. So kam es vor, dass eine Charge Retinsäure APL-Zellen zur Reifung brachte, während eine andere, identische Charge gar nichts bewirkte. Frustriert von diesen unvorhersehbaren und unerklärlichen Reaktionen, wandten sich Biologen und Chemiker nach ihrer anfänglichen Begeisterung von dieser Reifungssubstanz bald wieder ab.
    Im Sommer 1985 3 reiste jedoch ein chinesisches Team von Leukämieforschern nach Frankreich, um sich mit Laurent Degos zu treffen, einem Hämatologen am Pariser Hôpital Saint-Louis, der sich schon seit längerem mit APL befasste. Auch das chinesische Team mit seinem Leiter Zhen Yi Wang behandelte am Ruijin-Krankenhaus, einem riesigen Klinikzentrum in Schanghai, Patienten mit APL. Degos und Wang hatten es mit Standard-Chemotherapien versucht und Substanzen eingesetzt, die rasch wachsende Zellen angreifen, aber die Ergebnisse waren kläglich. Wang und Degos waren sich einig, dass gegen diese launische, tödliche Erkrankung eine neue Angriffsstrategie nötig sei, und sie kamen immer wieder auf die eigenartige Unreife der APL-Zellen und die vor Jahren aufgegebene Suche nach einer Substanz zurück, die die Promyelozyten zur Reifung brächte.
    Retinsäure kommt in zwei eng verwandten molekularen Formen vor, der Cis- und der Trans-Retinsäure. Von der Zusammensetzung her sind die beiden Formen identisch, unterscheiden sich aber geringfügig in der Molekularstruktur, und in ihren molekularen Reaktionen verhalten sie sich völlig unterschiedlich. (Cis-Retinsäure und Trans-Retinsäure haben die gleichen Atome, die aber jeweils anders angeordnet sind.) Von den beiden Erscheinungsformen der Säure wurde die Cis-Retinsäure intensiver getestet, und sie war es, die diese flüchtigen, unvorhersehbaren Reaktionen ausgelöst hatte. Wang und Degos fragten sich nun, ob nicht die Trans-Retinsäure die eigentliche Reifungssubstanz sei. Waren die unzuverlässigen Reaktionen bei den damaligen Experimenten auf eine in jeder Charge vorhandene variable Menge Trans-Retinsäure zurückzuführen?
    Wang, der in Schanghai die Schule der französischen Jesuiten besucht hatte, sprach ein singendes Französisch mit chinesischem Akzent. Nachdem sprachliche und geografische Gräben somit überbrückt waren, planten die beiden Hämatologen eine internationale Zusammenarbeit. Wang kannte eine Pharmafabrik in der Nähe von Schanghai, die reine Trans-Retinsäure herstellen konnte – ohne Beimischung von Cis-Retinsäure. Er wollte die Substanz an APL-Patienten am Ruijin-Krankenhaus testen. Nach der ersten Runde in China sollte das Team um Degos seinerseits die Strategie an
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