Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie

Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie

Titel: Der Koenig aller Krankheiten - Krebs, eine Biografie
Autoren: Mukherjee Siddhartha
Vom Netzwerk:
französischen APL-Patienten überprüfen.
    Wang begann seine Studie 1986 mit vierundzwanzig Patienten. Bei dreiundzwanzig schlug der Wirkstoff außerordentlich gut an, die leukämischen Promyelozyten im Blut reiften zügig zu weißen Blutkörperchen heran. »Der Zellkern vergrößerte sich«, 4 schrieb Wang, »und die Zahl der primären Granula im Zytoplasma nahm ab. Am vierten Tag der Kultur gingen aus diesen Zellen Myelozyten mit spezifischen (sekundären) Granula hervor, was auf die Entwicklung voll ausgereifter Granulozyten hindeutete.«
    Dann geschah etwas Unvorhergesehenes: Nachdem sie voll ausgereift waren, begannen die Krebszellen abzusterben. Bei manchen Patienten vollzog sich der Prozess von Differenzierung und Zelltod derart explosionsartig, dass das Knochenmark vor differenzierten Promyelozyten anschwoll und sich über mehrere Wochen hin, während die Krebszellen reiften und dann beschleunigt abstarben, langsam wieder leerte. Die jähe Reifung der Krebszellen löste ein kurzfristiges Stoffwechselchaos aus, das sich aber medikamentös beherrschen ließ; die einzigen sonstigen Nebenwirkungen der Trans-Retinsäure waren Lippen- und Mundtrockenheit und gelegentlich ein Hautausschlag. Die durch Trans-Retinsäure erzielten Remissionen hielten wochen-, oft monatelang an.
    Zu Rezidiven kam es dennoch, typischerweise drei bis vier Monate nach der Behandlung mit Trans-Retinsäure. Als Nächstes stellten die Teams in Paris und Schanghai einen Cocktail aus alten und neuen Wirkstoffen her und kombinierten die üblichen Zytostatika mit Trans-Retinsäure: Die damit erzielten Remissionen verlängerten sich um mehrere Monate. Bei rund drei Vierteln der Patienten hielt die Remission erst ein volles Jahr, dann ganze fünf Jahre an. 1993 kamen Wang und Degos zu dem Schluss, dass 75 Prozent ihrer Patienten, die mit einer Kombination aus Trans-Retinsäure und Standard-Chemotherapie behandelt worden waren, keinen Rückfall mehr erleiden würden – ein in der Geschichte von APL beispielloser Rekord.
    Die Krebsbiologen brauchten weitere zehn Jahre, um diese außerordentliche Reaktion auf molekularer Ebene zu erklären. Der Schlüssel dazu lag in den eleganten Studien der Zytologin Janet Rowley aus Chicago. 1984 hatte Rowley eine einzigartige Translokation in den Chromosomen der APL-Zellen identifiziert – ein Genfragment von Chromosom 15 verschmilzt mit einem Genfragment von Chromosom 17, und daraus entsteht eine Onkogen-Chimäre, die Promyelozyten hemmungslos wuchern lässt und ihre Reifung verhindert, so dass es zu dem eigentümlichen Syndrom von APL kommt.
    1990, ganze vier Jahre nach Wangs klinischer Studie in Schanghai, isolierten mehrere Forscherteams aus Frankreich, Italien und den USA unabhängig voneinander das schuldige Onkogen. Das APL-Onkogen, stellten die Wissenschaftler fest, codiert ein Protein, das von Trans-Retinsäure fest gebunden wird, und diese Bindung schaltet augenblicklich das Signal des Onkogens in den APL-Zellen ab, was die in Schanghai beobachteten schnellen und anhaltenden Remissionen erklärt.
    Die Entdeckung am Ruijin-Krankenhaus war bemerkenswert: Die Trans-Retinsäure war die Erfüllung einer lang gehegten Fantasie der Molekularonkologie – ein Krebsmedikament, das sich gezielt gegen ein Onkogen richtet. Aber die Entdeckung war eine rückwärtsgelebte Fantasie. Auf die Trans-Retinsäure waren Wang und Degos durch Spekulieren und Ausprobieren gestoßen, und erst im Nachhinein hatte sich gezeigt, dass das Molekül direkt ein Onkogen angreift.
    War es denn auch möglich, den Weg in der umgekehrten Richtung zu gehen – vom Onkogen zum Wirkstoff? Tatsächlich war Robert Weinbergs Labor in Boston bereits auf diesem Weg, und Weinberg selbst war sich dessen gar nicht bewusst.
    Anfang der achtziger Jahre hatte Weinbergs Labor eine Technik perfektioniert, mit der krebsverursachende Gene direkt aus Krebszellen isoliert werden können. Mithilfe dieser Technik hatten Forscher Dutzende neuer Onkogene aus Krebszellen isoliert, und 1982 berichtete Lakshmi Charan Padhy 5 aus Bombay, der eine Postdoc-Stelle in Weinbergs Labor hatte, von der Isolierung eines weiteren Onkogens aus einem Neuroblastom bei einer Ratte. Weinberg benannte das Gen nach der Krebsart, in der es gefunden worden war: Neu .
    Neu wurde auf die länger werdende Liste der Onkogene gesetzt, doch es war eine Anomalie. Die Zellen sind von einer dünnen Membran aus Lipiden und Proteinen umschlossen, die als ölige Barriere gegen zahlreiche
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher