Der König der Diamanten
rufen?«, fragte Vanessa.
»Nein, das ist nicht nötig. Sie hat kein Fieber. Komm und sieh selbst«, sagte Titus und winkte Vanessa zu sich, damit sie ihre Hand auf die Stirn seiner Nichte legen konnte. Er hatte recht. Sie war kühl und atmete völlig normal. »Das ist nicht das erste Mal«, fuhr er fort. »Das Problem ist, dass sie nicht genug schläft. Ihr Engländer habt doch ein Wort für so etwas.«
»Insomnia?«
»Genau, Insomnia. Meine Katya leidet sehr darunter. Sie liegt stundenlang wach und wird darüber verrückt. Heute Abend hat meine Schwagerin … Schwägerin … ist das so richtig? Die Schwester meines Schwagers ist meine Schwägerin, oder?«
»Ich denke schon«, sagte Vanessa und musste lächeln. So sprach er manchmal mit ihr, wie jemand, der eine neue Sprache lernt und dem Lehrer Fragen stellt, und manchmal hatte sie das Gefühl, dass er sie ein bisschen aufziehen wollte und die Antwort eigentlich schon wusste. Zum Beispiel jetzt. Aber sie machte sich nichts daraus. Ihr war klar, dass er sie nur beruhigen wollte, und das wusste sie zu schätzen.
»Danke«, sagte er mit einer leichten Verbeugung. »Heute Abend also wollte Jana, meine Schwägerin, Katya ein Beruhigungsmittelgeben, damit sie einschlafen kann. Aber Katya hat sich gewehrt und sich furchtbar aufgeregt. Was nicht sonderlich fair ist, denn Jana wollte ihr nur helfen.«
Vanessa hatte die Schwester von Franz noch nicht kennengelernt. Normalerweise verabredeten Titus und sie sich in der Stadt, und bei den wenigen Besuchen, die Vanessa in Blackwater Hall gemacht hatte, war Jana nicht erschienen. Bei genauerem Nachdenken fiel Vanessa auf, dass Titus seine Schwägerin bislang überhaupt nicht erwähnt hatte. Es war, als würde sie gar nicht existieren. Unter anderen Umständen hätte Vanessa von Titus gern mehr über Jana erfahren, doch nun war dafür keine Zeit.
»Aber im Grunde trifft Katya keine Schuld«, sagte Titus und sah traurig hinunter auf seine Nichte. »Sie hat sich einfach bis heute nicht von Ethans Tod erholt.«
»Ich erinnere mich. Da habe ich sie zum letzten Mal gesehen. Ich war ja bei der Dinner-Party, die du nach Abschluss der Verhandlung gegeben hast.«
»Das war der Abend, an dem ich dich kennengelernt habe. Ein Abend, den ich nie vergessen werde«, sagte Titus, indem er sich nach vorne beugte und Vanessas Hand küsste. Sie lächelte erneut, kam jedoch auf das zurück, was ihr ursprünglich auf dem Herzen gelegen hatte.
»Sie war so wütend. Daran erinnere ich mich. Wütend auf diesen Mann, diesen Swain – auf das, was er getan hat.«
»Ja, sie wollte ihn umbringen. Nicht, dass ihr das ihren Ethan zurückgebracht hätte, so viel ist klar. Wenigstens war Swain verurteilt worden. Doch dann, als Swain im Gefängnis war, fühlte sie sich leer. Es gab nichts mehr zu tun, und alle mussten wieder in ihr altes Leben zurück. Nur dass Katya das nicht konnte. Sie hatte überhaupt keine Orientierung – sie war wie ein Schiff ohne Kapitän. Sie ging nach Oxford und verlor vollkommen die Kontrolle über sich. Oxford ist eine schöne Stadt, aber wie jede Stadt hat sie auch eine unschöne Seite – eine Schattenseite!«
Titus hielt einen Moment inne und kostete das Wort aus, als sei er stolz darauf, einen derartigen Ausdruck zu kennen.
»Sie bewegte sich an Orten, an denen junge Mädchen nichts verloren haben, und sie tat Dinge, die sie niemals hätte tun sollen«, fuhr er kurz darauf fort. »Sie nahm Drogen, Vanessa. Hier, schau.« Titus schob vorsichtig Katyas linken Ärmel bis zur Schulter hinauf und zeigte auf die Einstiche in der Armbeuge. »Aber das ist nicht alles. Sie hat sich verkauft.« Titus Stimme wurde brüchig, und er bedeckte mit der Hand seine Augen.
»Es tut mir leid, Titus. Ich hatte ja keine Ahnung. Das alles musst du mir nicht erzählen«, sagte Vanessa. Sie war erschüttert und verstört angesichts der Dinge, die derart schwer auf Titus lasteten.
»Ich erzähle es dir, weil ich es will«, sagte Titus und griff nach Vanessas Hand. »Ich möchte, dass es zwischen uns keine Geheimnisse gibt. Du bist mir wichtig, Vanessa. Das weißt du doch, oder?«
Titus sah Vanessa in die Augen und spürte, dass das Gesagte sein Ziel nicht verfehlte. Doch die Verbindung zwischen ihnen wurde plötzlich unterbrochen, denn Vanessa schaute über seine Schulter und verzog das Gesicht. Er drehte sich um. Hinter ihm stand Franz im Türrahmen.
Wie mein verdammter Schatten
, dachte er verärgert. Franz war wie üblich im Weg, machte
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