Der König der Diamanten
ziemlich Angst machen«, sagte die alte Dame und lächelte. »Aber das ist nur, weil sie vorsichtig sein muss. In Wirklichkeit ist sie die Güte in Person. Sie fehlt mir so, seit wir weggezogen sind. Und ihre Katze natürlich.«
»Wir?«, fragte Trave und schaute verdutzt drein.
»Verzeihen Sie, Inspector. Ich hatte nicht vor, in Rätseln zu sprechen.Ich bin Aliza Mendel, Jacobs Großmutter. Sie fragen sich sicher, wo er ist?«
»Allerdings.«
»So leid es mir tut, er ist verschwunden. Wir wissen nicht, wo er steckt. Neun Monate ist er schon weg. Und da ich außer ihm keinen Verwandten mehr habe, können Sie sicher verstehen, dass ich mir Sorgen machen.« Alizas Augen vergrößerten sich. »Deshalb bin ich gekommen, Inspector: Um Sie zu bitten, Jacob zu finden und ihm etwas von mir auszurichten.«
»Was denn?«, fragte Trave. Sehr gerne wollte er der alten Dame helfen. Denn nur zu gut konnte er sich an das erinnern, was während des Krieges mit Jacobs Eltern geschehen war, ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter.
»Sagen Sie ihm, er soll nach Antwerpen zurückkommen und aufhören, in der Vergangenheit herumzustochern. Da kommt nichts Gutes dabei heraus. Das weiß ich.«
»Wenn ich ihn finde, kann ich ihm das schon sagen. Aber ich glaube nicht, dass er auf mich hört. Er ist ein willensstarker junger Mann. Das weiß ich, denn ich habe ja mitbekommen, wie er vor Gericht ausgesagt hat.«
»Oh ja – willensstark, eigensinnig, tollkühn. Und besessen – besessen von dem Brief, den Ethan ihm kurz vor seinem Tod geschrieben hat. Jacob erträgt das nicht. Das ist das Problem. Es macht ihn verrückt, dass sein Bruder ihm etwas mitteilen wollte und es nicht mehr konnte, weil er starb. So wie ich das sehe, denkt er, er hätte Ethan das Leben retten können, hätte er nur gewusst, was der ihm sagen wollte. Dafür hat er natürlich überhaupt keinen Grund, aber trotzdem fühlt er sich so. Und genau wie Sie ist er davon überzeugt, dass dieser Mann, dieser Swain, nichts mit Ethans Tod zu tun hat. Er sagt, das war alles ein abgekartetes Spiel, eine Verschwörung. Und dasselbe denkt er vermutlich auch über Katyas Tod. Ich habe darüber in der Zeitung gelesen – gesehen habe ich ihn nicht seither.«
»Warum? Warum behauptet er, es sei eine Verschwörung?«, fragte Trave.
»Weil Ethan den Brief aus Deutschland geschickt hatte, nicht aus England. Deshalb vermutet Jacob, dass Ethan etwas entdeckt hat – etwas, das dann zu seinem Tod führte. Das könnte schon stimmen. Nach der Gerichtsverhandlung in London kam ein fremder Mann hierher und sagte, ich solle Jacob warnen: Die Vergangenheit sei etwas, das man besser ruhen ließe. Jacob war zum Glück nicht da, denn womöglich wären die Dinge eskaliert. Jedenfalls sind wir daraufhin umgezogen.«
»Wie sah der Mann aus?«
»Nicht sonderlich groß, schlank, mit kalten, aufmerksamen Augen. Er behielt den Hut auf und hatte den Kragen bis über die Ohren hochgeschlagen. Deshalb konnte ich so gut wie nichts von seinem Gesicht sehen. Er kam abends, und vor meiner Wohnung war es relativ dunkel. Ich glaube nicht, dass ich ihn wiedererkennen würde. Aber ich weiß, was für eine Art Mensch das war. Ich kenne Leute wie ihn aus der Zeit, in der die Deutschen hier waren. Leute, die für die Geheimpolizei gearbeitet haben. Er sprach Niederländisch, fast wie ein Muttersprachler. Aber nur fast«, fügte sie nachdenklich an. »Sprachen sind meine Spezialität, ich hatte früher auch beruflich damit zu tun. Jacob hat diese Begabung von mir geerbt. Der Mann, der hierherkam, war, glaube ich, kein gebürtiger Belgier. Eher ein Deutscher.«
»Hat er einen Namen genannt?«
»Nein, natürlich nicht. Solche Leute haben keinen Namen«, sagte die alte Dame und lachte kurz auf, ohne wirklich amüsiert zu sein. »Er blieb auch nicht lange – gerade so lange, um seinen Standpunkt klarzumachen. Und ich hatte Angst – ich schäme mich nicht, das jetzt zuzugeben –, deshalb habe ich Jacob alles erzählt. Hätte ich das bloß nicht getan. Der Besuch dieses Mannes hat ihn nur noch darin bestärkt, Ethans wahren Mörder finden zu müssen. Und damals war er schon fest davon überzeugt, dass hinter derganzen Sache Titus Osman steckt. Das hat dann
mich
wieder geärgert …«
»Warum? Warum Osman?«, fiel Trave ihr ins Wort und beugte sich in seinem Sessel vor.
»Ich weiß nicht. Vermutlich hat es damit zu tun, dass Ethan bei Titus zu Besuch war, um etwas über seine Eltern zu erfahren, und dann in diesem
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