Der König der Diamanten
woraufhin die weiße Katze sich streckte, von ihrem Schoß glitt, Trave einen Moment lang kritisch beäugte und dann ohne große Eile davonstolzierte.
Aliza nahm ein kleines, gerahmtes Bild aus der Tasche und reichte es Trave, der aufstehen musste, um es entgegennehmen zu können.
»Es wurde vor etwa zwei Jahren gemacht«, sagte die alte Dame. »Und mittlerweile trägt Jacob eine Brille. Er war schon immerkurzsichtig, wie sein Vater, doch letztes Jahr ist es um einiges schlimmer geworden. Ich habe hinten meine Adresse und meine Telefonnummer draufgeschrieben.«
Ein gutaussehender junger Mann mit schmalem Kopf und großen Augen blickte Trave an. Weder lächelte er noch wirkte er schlechtgelaunt, doch um seinen Mund spielte ein entschlossener Zug, und sein Kinn wirkte kräftig und energisch. Er sah aus wie ein Mann mit einer Mission, dachte Trave.
»Ich werde ihn suchen«, sagte Trave langsam, als würde er ein Gelübde ablegen. »Versprechen kann ich nichts, aber ich werde mir Mühe geben. Und sollte ich ihn finden, richte ich ihm aus, was Sie mir gesagt haben.«
»Danke. Mehr will ich auch nicht«, sagte die alte Dame und streckte Trave die Hand entgegen. »Ich habe das Gefühl, Sie sind ein guter Mensch, William Trave. Mir scheint, Sie haben so wie ich einiges mitgemacht, deshalb können Sie auch verstehen, was ich Ihnen gesagt habe. Möge Gott mit Ihnen sein und Sie führen.«
Kapitel Siebzehn
Vanessa fröstelte und vergrub die Hände tief in den Manteltaschen. Sie hatte sich dick eingepackt, bevor sie nach draußen ging, doch es war so kalt, dass selbst das nicht reichte. In der Zeitung hatte gestanden, dass es schneien würde, doch im Moment gab es nur die Kälte und den Nebel über dem Fluss, an dessen Ufer sie saß. Die entlaubten Bäume auf der anderen Seite sahen aus wie riesige, unheilvolle Schatten, und sie fühlte sich unbehaglich.
Sie hasste den Januar – wenn es schien, dass der Winter nie zu Ende gehen würde und es schon nachmittags um halb vier dunkel wurde. Januar war eine Art jährlicher Belastungsprobe. Ausgediente Weihnachtsbäume warteten am Straßenrand darauf, abgeholt zu werden, der Boden war hart und trocken. Es schien, als würde die Zeit stillstehen. Wieder einmal dachte Vanessa, dass sie doch eigentlich im falschen Land zur Welt gekommen sei. Im Grunde ihres Herzens war sie eine Südländerin, gequält von einer unerfüllten Sehnsucht nach der heißen Sonne des Mittelmeeres und noch weiter entfernten Ländern.
Sie wusste natürlich, dass sie sofort dorthin fliegen, eine Woche am Strand herumliegen und sich die Kälte aus dem Leib brennen lassen konnte. Sie hatte ein bisschen Geld gespart und war sich zudem sicher, dass Titus mitgehen würde, wenn sie ihn fragte. Sehr gern sogar, wahrscheinlich. Aber sie konnte sich einfach nicht dazu durchringen. Es kam ihr wie eine Flucht vor, als ob sie sich aus einer Verantwortung stehlen wollte. Denn nicht nur der Winter war schuld daran, dass sie sich beklommen und bedrängt fühlte. Ihr Unbehagen hatte einen tieferen Grund. Ihr war klar, dass sie eine Entscheidung treffen musste. Aber sie traute den Wegweisern nicht und hatte deshalb keine Ahnung, welchen Weg sie einschlagen sollte.
Titus hatte mehrere Monate lang Geduld bewiesen, doch sie spürte, dass er allmählich mit einer Antwort auf seinen Heiratsantrag rechnete. Vanessa glaubte schon, dass sie ihn liebte – zumindest dachte sie immer an ihn, wenn er nicht bei ihr war, und freute sich wahnsinnig auf ihre gemeinsamen Abende. Aber war das genug für eine Ehe? Einst, vor vielen Jahren, hatte sie ihren Mann von ganzem Herzen geliebt, und doch war die Beziehung gescheitert. Die Vergangenheit lastete schwer auf ihr: Wie sehr sie sich auch anstrengte, konnte sie doch die gemachten Erfahrungen nicht einfach ignorieren. Sie hatte Angst vor einer Bindung, konnte jedoch andererseits die Unabhängigkeit, die sie sich in ihrer kleinen Wohnung hinter dem Keble College erarbeitet hatte, lange nicht mehr so genießen wie zu Beginn. Sie war unruhig und streifte nach der Arbeit ziellos durch die Stadt. Abends fühlte sie sich oft einsam und schaltete das Radio neben ihrem Bett an, um gegen die Leere anzukämpfen.
Aber der Grund für ihre Verwirrung war nicht nur die Unentschiedenheit in Bezug auf Titus. Sie fühlte sich auch schuldig – ihr Gewissen nagte an ihr und drohte sie aufzufressen. Drei Monate waren vergangen, seit man David Swain wieder eingesperrt hatte, und sein Prozess rückte immer
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