Der König der Diamanten
die Shoah statt. Er wollte sein Zuhause nicht verlassen, sein Geschäft – das, wofür er sein Leben lang hart gearbeitet hatte.«
»Aber er konnte doch sein Geschäft nicht mehr führen, oder?«
»Er hatte nichtjüdische Leute, die ihm das abnahmen. Und eine Zeitlang funktionierte das. So lange, bis die Deutschen es sich anders überlegten und auch auf belgische Juden Jagd machten. Erst da tauchten Avi und Golda unter, nähten Diamanten in ihre Kleider und wurden an der Grenze geschnappt. Sie waren bei einem der letzten Transporte dabei, der von Mechelen nach Auschwitz ging, und kamen nicht zurück. So gut wie niemand kam zurück.«
Auschwitz. Der Ortsname, den Aliza bislang vermieden hatte, sank wie ein Stein in ihr Gespräch und brachte sie beide zum Schweigen. Draußen war die Sonne untergegangen, und das Feuer war heruntergebrannt – so konnte Trave kaum erkennen, was im Gesicht der alten Dame vor sich ging. Sie wirkte, als sei sie weit weg.
»Wie ertragen Sie das nur?«, fragte er sie. »Dieses furchtbare Leid – wie schaffen Sie es, weiterzumachen?«
»Weil ich muss«, sagte sie. »Das ist mein Schicksal, das Schicksal meines Volkes. Ich kann wählen – das Leben oder den Tod. Beides zusammen geht nicht.«
Trave schüttelte den Kopf und musste an sein eigenes Leben denken, an den Tod seines Sohnes, den Verlust seiner Frau, die vielen ermordeten Männer und Frauen, deren Todesursache er hatte klären müssen. Das war alles nichts im Vergleich zu dem, was im Krieg geschehen war.
»Leicht ist es nicht«, sagte Aliza und sah Trave an, als wisse sie, was ihm gerade durch den Kopf ging. »Mein Leben war hart, aber neben dem Schlechten gab es auf der Wanderung auch viel Gutes. Mein Name, Aliza, bedeutet im Hebräischen ›fröhlich und heiter‹. Ich glaube, meine Eltern nannten mich so, weil sie sich unglaublich über mich freuten. Meine Mutter hatte große Probleme gehabt – vor mir gab es sieben Fehlgeburten. Ich habe immer wieder darüber nachgedacht, ob ich den Namen nicht ändern soll. Aber dann tat ich es doch nicht, denn das ist, was ich bin, was meine Eltern mir mitgegeben haben, was ich erfüllen muss, ungeachtet allen Elends.«
»Sie sagten, Sie seien ›gewandert‹«, sagte Trave. »Demnach sind Sie nicht von hier?«
»Aus Antwerpen? Nein. Ich kam aus Polen hierher, nach dem Ersten Weltkrieg, um vor den Pogromen zu fliehen. Ich habe von Amerika geträumt, aber wie viele andere bin ich hier hängengeblieben. An der Börse, dem Diamantentauschplatz, konnte ich als Übersetzerin arbeiten. Dort habe ich dann meinen Mann kennengelernt, Gott habe ihn selig, und wir bekamen Avi. Antwerpen wurde mir zur Heimat. Nach dem Krieg hätte ich nach Israel gehen können, doch ich musste einfach wieder hierherkommen. Man sagt, Antwerpen sei jetzt das letzte Schtetl in ganz Europa. Bei Ihnen in England gibt es das ja auch: Ein Dorf, wo jeder jeden kennt, wo einem alles vertraut ist und das Leben trotzdem immer neue Überraschungen bringt.«
Trave nickte bei der Erinnerung an das bunte Treiben, das er noch kürzlich im jüdischen Viertel erlebt hatte.
»Vielleicht habe ich auch einen Fehler gemacht«, sagte Aliza nachdenklich. »Vielleicht war ich zu egoistisch. In Israel hätten die Jungen eher nach vorne geschaut, nicht zurück. In der Schweiz haben sie Tag für Tag darauf gewartet, dass ihre Eltern zurückkehren, und in Antwerpen haben sie dann nur noch daran gedacht, wie schön alles hätte sein können.«
»Standen sich Ethan und Jacob nahe?«
»Und wie. Sie waren quasi unzertrennlich, obwohl sie so unterschiedlich waren. Ethan war zwei Jahre älter und mir sehr ähnlich, glaube ich: zuverlässig, geduldig, ausdauernd. Jacob hingegen ist eigensinnig, sprunghaft, neigt zu Extremen. Nach Ethans Tod verließ er unsere traditionelle Gemeinde und wandte sich dem Chassidismus zu. Kaum zwei Monaten später sagte er, er sei jetzt Zionist. Ich habe keine Ahnung, was er jetzt ist. Oder wo …«
»Hat er denn geschrieben, angerufen oder auf irgendeine andere Art Kontakt mit Ihnen aufgenommen?«
»Nein. Nichts davon. Wie schon gesagt, ist unsere Beziehung seit Ethans Begräbnis etwas abgekühlt.«
»Haben Sie ein Bild von ihm? Ich habe ihn ja einmal gesehen, in London, als er seine Aussage vor Gericht machte. Aber ein Foto würde bei der Suche sicher helfen.«
»Daran habe ich schon gedacht«, sagte Aliza. Sie beugte sich nach vorne und nahm eine abgewetzte schwarze Tasche vom Boden neben ihren Füßen,
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