Der König der Diamanten
näher. Und doch behielt sie weiterhin für sich, was Katya ihr an jenem Septemberabend im Salon von Blackwater Hall anvertraut hatte. Vanessa erinnerte sich ganz genau daran, welche Anstrengung das Mädchen unternommen hatte, um zu ihr zu gelangen und ihr die paar Worte zuzuflüstern, bevor sie in Ohnmacht fiel. »Sie wollen mich umbringen«, hatte sie gesagt. Ein paar Wochen später wurde sie tatsächlich umgebracht, und Vanessa hatte geschwiegen. Warum? Zunächst einmal, weil Titus sie darum gebeten hatte, wobei sie zu dem Zeitpunkt keinerlei Versprechungen gemacht und nur gesagt hatte, sie würde darüber nachdenken. Und als dann eine Woche später Franz Claes versucht hatte, sie unter Druck zu setzen, wollte sie eigentlich Titus mitteilen, dass sie sich entschieden hätte, zur Polizei zugehen. In ihren Augen war ihr Mann ein von Grund auf anständiger Mensch – unvorstellbar, dass er Katyas Worte verwenden würde, um Titus den Mord anzuhängen, nur weil er sich auf einem Rachefeldzug gegen den Liebhaber seiner Frau befand. Doch wenige Stunden nach ihrer Unterredung mit Claes war sie gezwungen gewesen, ihre Meinung zu ändern. Selbst jetzt, Monate später, bekam Vanessa Gänsehaut bei dem Gedanken daran, dass ihr Ehemann im Hof von Blackwater Hall auf dem Rücken gelegen hatte – wie ein wütender Schulbub, der soeben aus einer Spielplatzkeilerei als Verlierer hervorgegangen war. Ganz offensichtlich konnte man ihm nicht trauen, und so hatte sie widerwillig versprochen zu schweigen, als Titus später erneut auf die Sache zu sprechen kam. Und an dieses Versprechen hatte sie sich auch noch gebunden gefühlt, als ihrem Mann der Fall entzogen wurde.
Als dann die Wochen vergingen und Swains Verhandlung immer näher rückte, versuchte sie sich einzureden, dass das, was sie tat, nicht wichtig war angesichts einer derart erdrückenden Beweislast. Doch ihr Gewissen wollte keine Ruhe geben. Sie schaffte es nicht, Katyas weißes, lebloses Gesicht aus ihrem Gedächtnis zu verbannen, und mit jedem Tag fühlte sie sich noch mehr hin und her gerissen zwischen ihrem Bedürfnis, das Richtige zu tun, und dem Wunsch, Titus zu schützen.
Was Vanessa aber am meisten belastete, war der Umstand, dass sie nicht nur Titus deckte, sondern auch Claes. Sie zweifelte keine Sekunde daran, dass Titus vollkommen unschuldig war, aber bei Claes war sie sich nicht ganz so sicher. Der Schwager von Titus war ihr so unsympathisch, dass ihr das selbst komisch vorkam, und am vergangenen Sonntag war ihre gegenseitige Abneigung beinahe in offene Feindseligkeit gekippt.
Sie hatten in Blackwater Hall im Esszimmer gesessen, Titus am einen Ende des Eichentisches, Claes am anderen, links und rechts an den Seiten Vanessa und die schweigsame, ernst dreinschauende Schwester von Claes. Es hatte den ganzen Tag geregnet, unddie Luft war drückend feucht. Vanessa brachte nur mit Mühe Roastbeef und Yorkshire-Pudding hinunter, die Titus in einer Art kulinarischer Huldigung an seine Adoptivheimat sonntags immer servieren ließ, und zählte dann die Minuten bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie endlich wieder allein mit ihm sein würde. Während das Dessert gereicht wurde, begann eine lockere Diskussion über Politik und das, was in der Welt so vor sich ging. Vanessa interessierte sich nicht sonderlich dafür, wenngleich sie vor ein paar Tagen im Fernsehen Kennedys Amtseinführung verfolgt hatte und von der Aufbruchsstimmung, die der junge Präsident auslöste, durchaus angesteckt worden war.
»Er wird sich auf allerhand gefasst machen müssen«, sagte Claes in seinem auf eigenartige Weise überkorrekten Englisch. »Die Russen werden angreifen. Vielleicht dieses Jahr, vielleicht nächstes. Chruschtschow, Stalin – da ist einer wie der andere.«
»Was soll das heißen: einer wie der andere?«, fragte Vanessa, die sich über Claes’ apodiktische Gewissheit ärgerte. »Chruschtschow hat Stalin und die Säuberungen verurteilt. Haben Sie das nicht gelesen?«
»Das spielt keine Rolle«, sagte Claes mit einer abfälligen Handbewegung. »Das sind Bolschewiken. Sie wollen, dass alles andere auch bolschewistisch wird. Im Krieg hätten wir sie aufhalten können, aber die Gelegenheit ist jetzt ja wohl vorbei.«
»Gelegenheit? Wovon reden Sie? Ohne die Russen hätte Hitler gewonnen. Ist es das, was Sie wollten?«, fragte Vanessa zornig. Sie warf die Serviette auf den Tisch und schob ihren Stuhl nach hinten, doch Titus streckte den Arm aus und legte seine Hand auf die
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