Der König der Diamanten
ein korpulenter, wenn nicht gar übergewichtiger Mann in Polizeiuniform, der offenbar darauf wartete, endlich eintreten zu können. Er hatte sich beim Rasieren am Kinn verletzt, und ein großes Pflaster verunstaltete sein ohnehin schon recht unvorteilhaft aussehendes Gesicht.
»Ach, Jonah«, sagte Macrae und bewies durch die Art seiner Anrede tiefe Vertrautheit mit dem riesigen Mann. »Seien Sie bitte so gut und zeigen Mrs. Trave den Weg nach draußen.«
Bei der Nennung des Namens ließ Wale grinsend seinen Blick über Vanessa streifen, dann drehte er sich wortlos um und ging den Korridor hinunter.
Draußen im Foyer musterte er sie von oben bis unten und verzog den Mund zu einem derartig süffisanten Grinsen, dass Vanessa wütend wurde.
»Vielen Dank«, sagte sie viel höflicher, als sie eigentlich beabsichtigt hatte. Ohne das Grinsen sein zu lassen, drehte er sich um und verschwand im Inneren des Polizeireviers.
Nach ihrem Besuch bei Inspector Macrae wusste Vanessa ein paar Tage lang nicht, was sie denken sollte. Sie hatte endlich getan, was ihr Gewissen gefordert hatte, und das Ergebnis war eigentlich zufriedenstellend. Der für den Fall zuständige Beamte hatte sie angewiesen, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Jetzt konnte sie sich wieder ihrem Leben zuwenden, ohne sich Vorwürfe machen zu müssen. Sie musste Titus auch nicht erzählen, dass sie zur Polizei gegangen war. Trotzdem war sie beunruhigt. Das war alles viel zu einfach gewesen. Nach wie vor hatte sie das Gefühl, dass Claes und seine Schwester überprüft werden mussten, und ihr gefiel einfach nicht, welch diebische Freude Macrae ganz offenbar an Bills Untergang gehabt hatte. Ihr Schweigen begann sich jetzt wie eine Art Komplizenschaft anzufühlen – als würde sie ihren Mann ein weiteres Mal betrügen, mit einem weiteren Gegner. Doch sofort ärgerte sie sich wieder darüber, dass sie jetzt die Verantwortung für alles tragen sollte. War es nicht so, dass Bill an allem schuld war? Am Scheitern ihrer Ehe, am Ende seiner Karriere? Er war immer ein Sturkopf gewesen, jemand, mit dem man nicht zusammenarbeiten konnte. Deshalb war er auch nie befördert worden, deshalb hatte ihr gemeinsames Leben in finanzieller Hinsicht immer an einem seidenen Faden gehangen. Jetzt konnte sie nicht zulassen, dass er ihr weiterhin zur Last fiel. Titus bot ihr die Chance, ein zweites Mal glücklich zu sein, und diese Chance musste sie einfach mit beiden Händen ergreifen.
Am Wochenende hatte es endlich geschneit, und die Welt war auf einmal strahlend weiß. Besonders schön war es jetzt in den Universitätsparks. Der Fluss war gefroren, und scharenweise trieben sich lachende Studenten auf Schlittschuhen herum. Bunte Schals flatterten hinter ihnen her, und ihre Atemluft stand wie Rauch im Licht der Wintersonne. Vanessa sah ihnen von der Parkbank bei der Rainbow Bridge zu. Hier hatte sie noch vor wenigen Tagen gesessen und sich niedergeschlagen gefühlt. Jetzt fühlte sie sich lebendig, mit jeder Faser ihres Körpers, und sie bückte sich,nahm eine Handvoll Schnee vom Boden und drückte sie sich an die Stirn. Die Kälte fühlte sich gut an. Dann ging sie zwischen den schwarzen Baumreihen zurück und genoss dabei das Knirschen ihrer Schritte auf der unberührten Schneedecke. Am Parkeingang angekommen stieg sie in ihr kleines Auto, machte sich auf den Weg nach Blackwater Hall und folgte dabei den rötlich-gelben Strahlen der Sonne, die im westlichen Himmel hinter ihr stand.
Sie war ein bisschen zu früh dran, doch als sie den Motor abstellte, hatte Titus bereits die Haustür geöffnet und kam ihr entgegen. Offenbar hatte er vom Salon Ausschau nach ihr gehalten, und Vanessa wurde es ganz warm ums Herz bei dem Gedanken, dass er sich so auf ihren Besuch zu freuen schien.
Er trug weder Hut noch Mantel, und sie musste lachen, als sie dann im Haus bemerkte, dass sein Bart und seine Haare voller Schneeflocken waren.
»Komm«, sagte er, indem er sie bei der Hand nahm und den Gang hinunter in sein Arbeitszimmer führte. »Ich muss dir etwas zeigen.«
»Etwas, das nicht warten kann?«, fragte sie und musste lachen, weil er so aufgeregt und ungeduldig war.
»Etwas, das nicht warten kann«, sagte er und öffnete die Türe.
Eine Farbfotografie lag mit dem Bild nach oben auf dem Schreibtisch, auf dem außerdem nichts war als das Telefon und die Leselampe mit dem grünen Schirm. Der silbere Rahmen mit dem Bild von Katya, den Vanessa bei einem früheren Besuch hier noch
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