Der König der Diamanten
gesehen hatte, war verschwunden.
Vanessa betrachtete das Foto: Eine Aufnahme von einem riesigen, kissenförmigen Diamanten mit zahllosen Schnittflächen, die eine wie die andere in ebenso zahllosen Farbschattierungen glänzten.
»Der ist wunderschön«, sagte sie und war tief beeindruckt von seiner Größe.
»Ja, und außergewöhnlich dazu – wenn man ihn in echt vor sichhat und seine Geschichte kennt«, sagte Titus leise. »Die großen Diamanten – und dies ist einer – haben nämlich alle eine Geschichte. Sie alle reisen um die Welt, von einer begierigen Hand zur nächsten, und sie alle ergreifen eher Besitz von ihren Eigentümern als andersherum. So sind sie nun mal. Das ist etwas, was nicht jeder weiß. Jedenfalls sind deshalb viele von ihnen im Museum.«
»Auch dieser hier?«
»Ja. Er ist im Louvre. Auf einer elektrisch kontrollierten Unterlage aus schwarzem Samt, umgeben von einem Kasten aus schusssicherem Glas. Darunter befindet sich ein speziell angefertigter Stahltresor, aus dem er per Knopfdruck allmorgendlich ans Licht geholt und abends, wenn das Museum schließt, wieder ins Dunkel versenkt wird. Niemand hat bisher auch nur versucht, ihn zu stehlen«, sagte Titus mit einem Lächeln.
»Hat er einen Namen?«, fragte Vanessa.
»Aber ja. Alle großen Diamanten haben Namen. Dieser hier heißt Regent. Er stammt aus Indien. Ein Sklave hat ihn zu Beginn des 18. Jahrhunderts in der Parteal-Mine am Fluss Kistna ausgegraben«, sagte Titus, indem er mit großer Genugtuung die fremdländischen Namen artikulierte. »Dass er wertvoll war, konnte man leicht erkennen – ich meine, das war der größte Diamant, den es bis dahin auf der Welt gab. Der Sklave wollte ihn selbst behalten, fügte sich eine Schnittwunde zu und versteckte den Diamanten in den Bandagen, mit denen er die Wunde umwickelte. Ich habe keine Ahnung wie, aber er schaffte es, aus der Mine herauszukommen und zur Küste zu gelangen. Dort handelte er mit einem englischen Kapitän aus, dass der ihn für die Hälfte des Werts nach Madras bringen sollte, wo er den Diamanten verkaufen wollte. Aber der Kapitän war habgierig und ließ den Sklaven über Bord werfen, und so kam es, dass, wie so oft, die Geschichte des Diamanten mit einem Mord begann …«
Osman machte eine Pause und sah aus dem Fenster hinaus auf den Sonnenuntergang, der alles golden aufleuchten ließ.
»Und dann?«, fragte Vanessa ungeduldig. »Was ist dann passiert?«
»Thomas Pitt hat ihn gekauft, der britische Gouverneur von Fort St. George in Madras. Er hat ihn nach England geschickt und ihn schleifen lassen.«
»Schleifen?«
»Ja. Durch das Schleifen verändert sich ein Diamant: Sein inneres Feuer wird freigelegt. Im Mittelalter wusste niemand, was sich unter der stumpfen, grauen Oberfläche eines Rohdiamanten verbarg. Für die Inder waren Diamanten wertvoll wegen ihrer Härte, nicht wegen ihrer Schönheit. Aber irgendwann hat jemand begonnen, mit Diamanten andere Diamanten zu schleifen, und so kam das Feuer zum Vorschein. Zunächste gab es den Rosenschliff – ein flacher Stein mit Facetten in Form einer geöffneten Rosenblüte –, dann, gegen Ende des 17. Jahrhunderts, entwickelte ein Schleifer in Venedig den Brillantschliff. Ab da war nichts mehr wie vorher. Dieser Stein hier, der Regent, war der erste große Diamant mit einem Brillantschliff: achtundfünzig Facetten, dreiunddreißig oberhalb des Gürtels, fünfundzwanzig unterhalb …«
»Was ist denn der Gürtel?«
»Die Mittelachse des Steins. Darüber ist die Krone, darunter der Pavillon. Und die Facetten bündeln das Licht, das in den Kristall ein- oder aus ihm ausdringt, deshalb funkelt der Diamant und erhält so seine Pracht. Zwei Jahre waren nötig, um den Regent zu schleifen, und schließlich war er so gut wie lupenrein. Aus ursprünglichen 410 Karat wurden 140,5. Die meisten der abgespaltenen Stücke kaufte Peter der Große, der Zar von Russland. Einige wenige Diamanten mit Rosenschliff ließ er übrig – dies hier ist einer davon.«
Titus brach ab. Aus seiner Tasche zog er eine kleine blaue Samtschachtel und legte sie Vanessa in die Hand. Mit zitternden Fingern öffnete sie den Deckel und hatte einen strahlend weißen Diamantring vor sich, wie sie ihn noch nie in ihrem Leben gesehen hatte.
»Ich liebe dich, Vanessa!«, sagte Titus. »Und ich möchte, dass du meine Frau wirst. Sag ja, bitte. Sag, dass du willst.«
Der Diamant war wie ein funkelnder Magnet, der Vanessas Augen unwiderstehlich anzog. Ihr wurde
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