Der König der Diamanten
ihre Dummheit. Sie hätte beim Stöbern im Buchregal nicht so viel Lärm machen dürfen – damit hatte sie die Aufmerksamkeit dieser Frau erregt. Jetzt war es zu spät: Jana versperrte ihr den einzigen Fluchtweg.
»Was machen Sie da?«, fragte Jana. Trotz ihres starken Akzents war deutlich zu hören, dass ihre Stimme feindselig klang.
»Ich habe nur geschaut. Mehr nicht. Nur geschaut«, sagte Vanessa mit gespielter Leichtigkeit. Zu dumm, dass ihr keine Ausrede einfallen wollte.
»Geschaut? Was denn?«
Vanessa antwortete nicht. Da fiel der Blick älteren Frau auf das dicke Buch, das Vanessa an ihre Brust presste.
»Was ist das? Woher haben Sie das?«, fragte Jana. »Sie haben es gestohlen«, fuhr sie gleich darauf fort und beantwortete damit ihre eigene Frage. »Geben Sie es her!«
Jana riss das Buch an sich. Vanessa war so überrascht von der Vehemenz dieses Angriffs, dass sie sich überhaupt nicht wehrte. Jana hatte selbst nicht damit gerechnet, dass sie das Buch so leicht bekommen könnte, und musste ein paar Schritte nach hinten machen, um das Gleichgewicht zu behalten. In diesem Augenblick ging es mit Vanessa durch. Sie hatte sich nicht so weit vorgekämpft und alles aufs Spiel gesetzt, nur um von dieser alten Jungfer ausgebremst zu werden, die wahrscheinlich genauso viel Dreck am Stecken hatte wie ihr Bruder. Mit ausgestreckten Händen packte sie Janas Schultern und stieß sie, so fest sie konnte, nach hinten. Jana knallte gegen die Wand und sank zu Boden. Sieschien bewusstlos zu sein, doch Vanessa kümmerte sich nicht weiter um sie. Sie hatte jetzt nur eines im Sinn – das Tagebuch aus dem Haus zu retten. Sie nahm
Alice im Wunderland
vom Boden auf und rannte den Gang entlang zur Treppe. Im ersten Stock angekommen hielt sie an und atmete durch. Von oben war immer noch nichts zu hören. Vorsichtig ging sie weiter bis zum oberen Ende der breiten Treppe, die in die Eingangshalle führte. Sie schaute hinunter. Es war niemand zu sehen außer Titus’ schwarzer Katze, die rundum zufrieden auf der fünften Treppenstufe saß und sich die Pfoten leckte. Vanessa hatte sie dort schon öfter sitzen sehen und wusste auch, warum Cara diesen Platz liebte: Von dort hatte man den besten Überblick über das ganze Haus.
Mit wackligen Knien ging Vanessa die Treppe hinunter und hielt sich dabei mit der einen Hand am Geländer fest. In der anderen hatte sie das Buch. Unmittelbar vor der Katze blieb sie stehen und legte den Finger auf die Lippen, wie um sie um Stillschweigen zu bitten. Cara blieb tatsächlich ruhig sitzen und sah mit ihren leuchtend grünen Augen zu, wie Vanessa langsam an ihr vorbeiging. Jetzt konnte Vanessa zu ihrer Rechten Stimmen hören – es klang, als sei im Esszimmer ein Streit zwischen Claes und Osman ausgebrochen. Sie ging durch die Halle auf die Eingangstür zu, da ertönten von oben plötzlich laute Rufe.
Wie festgenagelt blieb sie für einen Moment stehen, doch dann konnte sie sich losreißen und die Türe öffnen. Der Nebel schlug ihr ins Gesicht, sodass sie fast die Stufen hinunterstürzte. Aber irgendwie gelang es ihr doch, ihr Auto zu erreichen. Hinter sich hörte sie Schritte, als sie die Autotüre zuzog, den Motor startete und mit quietschenden Reifen losfuhr.
Claes sah ihr nach. Er blieb noch einen Moment im Hof und schaute durch den Nebel zu Osman und seiner Schwester, die beide im Eingang standen.
»Sie hat etwas. Aus Katyas Zimmer. Ein Buch«, sagte Jana auf Niederländisch. Sie war außer Atem und hielt sich die Seite, als hätte sie dort Schmerzen.
Claes nickte, als wüsste er, was zu tun war. Er rannte an den beiden vorbei ins Haus, um seine Schlüssel zu holen. In seinem Zimmer öffnete er die oberste Schublade seines Schreibtischs und nahm einen Revolver heraus. Er prüfte, ob das Magazin geladen war, steckte die Waffe ein und rannte die Treppe hinunter.
»Franz, hör zu! Bitte lass …«, rief Osman, aber Claes ignorierte ihn.
»Es dauert nicht lange«, rief er zurück, stieg in den Bentley und nahm Vanessas Verfolgung auf.
Osman blieb erschüttert auf der Eingangstreppe zurück. Für einen Moment musste er sich am Türrahmen anlehnen, dann nahm Jana seinen Arm und führte ihn ins Haus. Die Türe schloss sich, und über den nebligen Hof senkte sich wieder die unheimliche Nachmittagsruhe – bis wenige Minuten später eine hochgewachsene Gestalt aus den Bäumen am Ende der Einfahrt trat, nach kurzem Zögern die Eingangsstufen hinaufging und an der Tür
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