Der König der Diamanten
sie sein – das gewölbte Dach ihres Citroën 2CV war zu erkennen. Claes musste nur mit dem Fuß aufs Gaspedal tippen, und schon würde er an ihrer Stoßstange hängen. Mit Genugtuung sah er, wie sie ängstlich in den Rückspiegel schaute und wohl hoffte, es sei nicht er. Sie näherten sich jetzt der Kreuzung am Ortsausgang – genau der Stelle, an der David vor fünf Monaten den Wagen gekapert hatte. Jenseits der Kreuzung machte die Straße eine scharfe Kurve Richtung Westen und tauchte dann wieder in den Wald ein. Konnte es einen besseren Ort geben, um fernab irgendwelcher Zuschauer einen Unfall mit tödlichem Ausgang zu produzieren?
Claes hatte eigentlich erwartet, dass Vanessa an der Kreuzung abbremste, aber es war ihm einfach viel zu gut gelungen, sie in Angst und Schrecken zu versetzen. Sie schoss über die Kreuzung, und ohne nachzudenken folgte er ihr. Zu spät bemerkte er seinen Fehler. Ein schwerbeladener LKW tauchte aus dem Nebel auf und verfehlte Vanessas Wagen nur knapp. Doch Claes hatte weniger Glück. Mit voller Wucht erwischte der Lastwagen den Bentley und fuhr quasi durch ihn durch und gleichzeitig über ihn drüber. Selbst wenn Claes den Sicherheitsgurt angelegt hätte, hätte er keine Chance gehabt. Er war sofort tot – mit einem untypischen Ausdruck des Erstaunens in seinem bleichen, verzerrten Gesicht, oder besser dem, was davon übrig war.
Sekunden später erreichte Clayton die Unfallstelle, doch er richtete seine Aufmerksamkeit nur kurz auf den vollkommen zerstörten Wagen. Er überließ es Wale, den Unfall über Funk zu melden, vertraute den unter Schock stehenden LKW-Fahrer der Obhut des alten Ehepaars mit dem Krämerladen an, kniete dann neben der Leiche von Claes nieder und sah einen Moment lang in die weit aufgerissenen Augen des Toten. Dann, als würde ihm die Idee erst jetzt kommen, beugte er sich vor und durchsuchte Claes’ Taschen. Rechts war nichts, aber in der linken Jackentasche fand er einen kurzläufigen, versilberten Revolver. Das war ein Colt Detective Special – eine andere Waffe, als die, die Claes vorher gehabt hatte. Auch ohne nachzuprüfen, wusste Clayton, dass sie geladen war.
»Was wollen Sie damit machen?«, fragte Wale, der Clayton über die Schulter blickte. »Das ist ein Beweisstück.«
»Geht Sie nichts an«, antwortete Clayton, indem er sich aufrichtete und Richtung Wagen ging. »Haben Sie das Revier erreicht?«
»Ja«, sagte Wale. »Aber glauben Sie nur nicht, dass ich Macrae das mit der Waffe nicht sage«, fuhr er fort. »Denn das werde ich.«
»Na umso besser«, sagte Clayton giftig, stieg ins Auto und wendete mit quietschenden Reifen, um mit Vollgas Richtung Blackwater Hall zurückzufahren.
Vanessa hatte die Kurve hinter sich und fuhr weiter die Straße entlang, ohne von dem Unfall etwas mitbekommen zu haben. Sie wusste nur, dass zuerst hinter ihr Scheinwerfer aufgeleuchtet hatten, dann auch noch rechts von ihr, und dann auf einmal keine mehr. Jetzt war sie ganz allein auf dieser nebligen Straße und drückte das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Sollte der Wagen hinter ihr der von Claes gewesen sein, dann war irgendetwas geschehen. Aber sie würde nicht umkehren, um zu erfahren, was. Sie beugte sich vor und hoffte, im Nebel die ersten Turmspitzen von Oxford auftauchen zu sehen.
Zurück in ihre Wohnung wollte sie auf keinen Fall. Dort würde Claes als Erstes hinkommen, um nach ihr zu suchen. Sie stellte fest, dass sie unbewusst schon entschieden hatte, wohin sie fahren wollte: zu ihrem ehemaligen Heim in Nord-Oxford, aus dem sie vor zwei Jahren ausgezogen war. Es war Bill gewesen, der sie in die Höhle des Löwen geschickt hatte, um nach diesem Tagebuch zu suchen, also sollte er auch der Erste sein, der nachsah, ob es sich gelohnt hatte.
Sie hielt mit quietschenden Bremsen und läutete Sturm, bis ihr Mann endlich die Tür öffnete. Sobald sie im Haus war, setzte sie sich, nein: fiel sie auf das alte Sofa im Wohnzimmer. Sie zitterte am ganzen Körper und erzählte ihrem Mann die ganze Geschichte von vorne bis hinten, ohne einmal abzusetzen.
Trave machte sich bittere Vorwürfe. Er hüllte Vanessa in eine Decke, schenkte ihr einen Brandy ein und fragte sich, wie er nur auf die verrückte Idee kommen konnte, die Person, die er mehr als alles andere auf dieser Welt liebte, in solche Gefahr zu bringen. Das war schlimmer als das, was Jacob mit Katya gemacht hatte, viel schlimmer sogar: Denn nach dem damals Geschehenen hätte er es ja besser wissen
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