Der König der Diamanten
Flur aus gesehen. Titus stand mit dem
Rücken zu mir und hat mich nicht bemerkt. Das weiß ich sicher. Und als
er dann mit Jana und Franz unten beim Mittagessen saß, bin ich rein. Davor hatte ich gesagt, ich sei nicht hungrig. Was sogar stimmte. Ich habe alle möglichen Zahlenkombinationen ausprobiert – Geburtstage oder bedeutende Jahrestage, alles, was mir einfiel, aber nichts hat funktioniert. Ich muss warten, bis ich ihm einmal zusehen kann, wie er das Ding öffnet. Das ist meine einzige Chance.
30. August
Zweimal habe ich jetzt alles riskiert und nichts erreicht. So kann ich nicht weitermachen, auf keinen Fall. Gestern habe ich mich stundenlang unter Titus’ Bett versteckt, aber er ist nicht zum Safe gegangen – kein einziges Mal. Heute lag ich wieder eine Ewigkeit dort im Staub und bin fast eingeschlafen, während ich an Ethan dachte, da kam er plötzlich ins Zimmer und ging schnurstracks auf das Bild zu. Ich hob die Tagesdecke ein wenig, um sehen zu können, aber er stand zwischen mir und dem Safe, deshalb konnte ich nicht erkennen, welche Zahlen er einstellte. Das Herz schlug mir bis zum Hals, und ich hatte eine Riesenangst. Und als er sich tatsächlich einmal im Zimmer umschaute, dachte ich schon, er hätte mich entdeckt. Aber schließlich ging er hinaus. Anschließend zitterten meine Beine so sehr, dass ich es fast nicht hinaus schaffte. Das ist alles so schwer, und ich bin ganz allein. Wenn doch nur Ethan hier wäre, um mir zu sagen, was ich machen soll. Denn was mit meinem Onkel ist, weiß ich nicht. Vielleicht war er doch nicht an dem Mord an Ethan beteiligt, und Jacob schätzt das falsch ein. Vielleicht hat Franz auf eigene Faust gehandelt, aber in sein Zimmer kann ich nicht. Es ist immer abgeschlossen. Tag und Nacht.
»Ich habe es dir gesagt«, sagte Vanessa mit einem Kopfnicken. »Titus hat mit der Sache nichts zu tun – Claes und seine seltsame Schwester sind die Schuldigen. Aber Katya muss etwas entdeckt haben. Sonst hätten sie sie ja nicht beiseitegeschafft. Kannst du nicht sehen, was das war? Es muss doch irgendwo stehen.«
Erneut blätterte Trave weiter, bis er auf einmal überrascht innehielt. »Hier ist es«, sagte er und las weiter:
2. September
Heute war der längste Tag meines Lebens. Ich habe gefunden, wonach ich gesucht habe, aber wie ein Vollidiot habe ich es gleich wieder verloren. Jetzt bin ich in meinem Zimmer eingesperrt. Und hier werde ich sterben. Das weiß ich. Und vergessen werden. Genau wie Ethan. Außer jemand findet dieses Tagebuch nach meinem Tod. Ich muss alles aufschreiben, solange ich mich an alles erinnere und solange ich schreiben kann. Gott sei Dank wissen sie nichts von meinem Tagebuch. Sie vermuten nicht mal, dass ich eines habe.
Heute Morgen habe ich verzweifelt hier gesessen und aus meinem
Schreibtisch einen Briefblock geholt, um Jacob zu schreiben, dass wir die
Sache begraben müssen. Denn ich bin so weit gegangen, wie ich konnte, und habe doch nichts erreicht. Und die Sonne schien so hell herein, als wollte sie sich über mich lustig machen. Aber das Gegenteil war der Fall.
Als ich aus dem grellen Sonnenlicht nach unten blickte, konnte ich auf der ersten Seite des Blocks Konturen einer Handschrift erkennen. Mir war
sofort klar, dass die nur von Ethan stammen konnten, obwohl das Papier
nur wenig eingedrückt war. Ich erkannte seine ausladenden, schwungvollen Buchstaben, und mir war, als würde er zu mir sprechen, in der Art,
wie er mir zuhört, wenn ich ihm nachts Dinge erzähle.
»Meine liebste Katya, ich bin gerade eben zurückgekommen. Wir müssen reden. Treffpunkt am Bootshaus um fünf. Ethan.« Das hatte er hier geschrieben. Ich kapierte, dass das die Notiz war, die er mir hinterließ, nachdem er aus Westdeutschland zurückgekommen war. Oder besser: eine Kopie der Notiz, die er ja unabsichtlich machte, weil die Schrift durch
das dünne Papier durchdrückte. Jetzt weiß ich, was passiert ist. Er muss in mein Zimmer gekommen sein und nach mir gesucht haben, nachdem er wieder da war. Als er mich nicht fand, nahm er den Block aus dem Schreibtisch, um die Notiz zu schreiben. Dann legte er den Block wieder in den Schreibtisch zurück. Und dort liegt er seither und wartet auf mich – mit Ethans Botschaft aus dem Grab.
Und ich weiß auch genau, was dann passiert ist. Franz hat die Notiz an meiner Tür entdeckt und sofort erkannt, was für eine Gelegenheit sich ihm da bot. Er riss das obere Stück ab und nahm die untere Hälfte, um David zum
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