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Der König der Diamanten

Der König der Diamanten

Titel: Der König der Diamanten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Tolkien
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half, war Bewegung, und gleich darauf waren sie wieder am Werk, durchbrachen die Dachlatten und entfernten eine Schindel nach der anderen. Das war anstrengender als bei der Decke unten, und David fühlte sich vollkommen ausgelaugt, als sie eine Stunde später schließlich aufs Dach steigen konnten. Aber die Nachtluft erfrischte ihn wieder. Er atmete tief ein, füllte seine Lungen und spürte die Aufregung zurückkehren, als er die Stadt mit ihren vielen Lichtern überblickte. Direkt gegenüber erhoben sich aus dem Schatten die dicken Mauern des St. George Towers, des alten Kerkerturms von Oxford Castle, und hoch droben am östlichen Himmel hing der Mond und warf sein fahles Licht auf die Gefängnisanlage tief unter ihnen. Auf der einen Seite lag der innere Gefängnishof, von dem aus sie gestartet waren, auf der anderen Seite ein offener Hof mit Gebäuden auf drei Seiten. Und dahinter befanden sich die beiden hohen Mauern, die sie von der Freiheit trennten.
    »Wir müssen wieder runter, damit man uns nicht sieht«, sagte Eddie nach kurzer Pause und sah auf seine Uhr. »Wir müssen warten: Sie sind erst in zwei Stunden da. Und ich bete zu Gott, dass es ein paar Wolken gibt, wenn wir losziehen. Wenn wir den Hof beidiesem Licht überqueren müssen, haben sie uns gleich«, fügte er hinzu.
    Das Warten war furchtbar, schlimmer als alles andere davor. In recht unbequemer Haltung kauerte David auf einem gekreuzten Balken im Halbdunkel und sah zu, wie Eddie die Abdecktücher verknotete und immer wieder überprüfte.
    »Es muss doch einfachere Wege als diesen geben, oder nicht?«, sagte er, während er seine Stellung zum hundertsten Mal korrigierte. In seinem ganzen Leben hatte er sich noch nie so unwohl gefühlt.
    »Na klar«, sagte Eddie und nickte. »Sich zu verstellen ist am besten, aber da brauchst du eine Menge Glück. Johnny Allen, der verrückte Pfarrer, war darin Meister. Du hast sicher von ihm gehört. Vor ein paar Jahren waren die Zeitungen voll von ihm.«
    David schüttelte den Kopf.
    »Das war echt ein Ding. Er war ein Mörder, einer von den Zwanghaften, und deshalb haben sie ihn nach Broadmoor verfrachtet, du weißt schon, diese Anstalt für geisteskranke Schwerverbrecher. Höchste Sicherheitsstufe: Einzelbewachung rund um die Uhr und lauter so Zeugs. Auf jeden Fall war Johnny so ein Entertainer-Typ, und samstags trat er zur Gaudi der anderen Irren immer als Pastor auf, im schwarzen Anzug und mit Halsbinde und steifem Kragen. Und das machte er so neun oder zehn Jahre lang, bis er dann eines schönen Sonntagmorgens aufstand, sein Kostüm anzog und rausmarschierte. Einfach so. Die Wärter erkannten ihn nicht und dachten, er hätte die Messe gelesen oder so. Adieu höchste Sicherheitsstufe, hallo London.«
    Über ihren Köpfen schlugen die Kirchturmglocken der Stadt dreimal, und Eddie blickte mit ernstem Gesicht auf seine Uhr.
    »Viertel vor zwölf«, sagte er langsam. »Lass uns gehen.«
    Vorsichtig kletterten sie erneut auf das Dach und zogen ihre Ausrüstung nach. Der Mond leuchtete immer noch so hell wie vorher, und Eddie reckte ein wenig halbherzig die Faust in seine Richtung.
    »Na ja, wenigstens können wir sehen, was wir tun. Genau wie die halbe Belegschaft wahrscheinlich«, sagte er.
    Sorgfältig ließ Eddie das erste Seil aus Abdecktüchern hinunter, bis dessen Ende ungefähr einen Meter über dem Boden baumelte.
    »Bist du sicher, dass es hält?«, fragte David und warf einen kritischen Blick neben sich auf die Dachrinne, an der Eddie das Seil festgemacht hatte.
    »Jawohl, und ich halte mich dann auch daran fest. Ich bin der, der sich Sorgen machen muss. Wenn jemand runtersegelt, dann ich und die Dachrinne. Also mach schon!«
    Als David halb unten war, hielt er inne und klammerte sich fest an das Seil. Er erinnerte sich an seine erste Schwimmstunde, als sein Vater ihm gesagt hatte, nichts ist so schlimm, wie es auf den ersten Blick aussieht. Hier auf halber Höhe sah alles viel schlimmer aus als von ganz oben. Er hatte einfach zuviel Phantasie. Das war das Problem. Er konnte förmlich spüren, wie seine Knochen auf dem Asphalt zersplitterten, auch wenn er immer noch mitten in der Luft hing. Eddies Stimme weckte ihn aus seiner Schockstarre.
    »Hör zu, David, du kletterst weiter, oder ich lasse dich los. Verstanden, du verfluchter Idiot?«
    David hatte verstanden. Halb hangelnd, halb fallend rutschte er hinunter und landete eine Sekunde später am Boden, gebeutelt und zerschrammt, aber ansonsten ganz

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