Der König der Diamanten
offenbar ohne größere Schäden.
Er hatte keine Zeit zum Ausruhen. Eddie ließ bereits das andere Seil mit dem angebundenen Drehstuhl herunter, der anfing, sich immer schneller zu drehen und im Sinken mehrmals gegen die fensterlose Mauer des Gebäudes knallte. Doch schließlich hielt David ihn in den Händen, und Eddie konnte das Seil zu Boden fallen lassen. Rasch kletterte er hinterher, setzte zügig eine Hand unter die andere und kam problemlos das Seil herab, an dem David noch vor einer Minute gebaumelt hatte – im festen Glauben,sein letztes Stündlein hätte geschlagen. Eddie trug die zusammengefaltete Turnmatte unter seinem Hemd.
»Was zum Teufel war das gerade?«, flüsterte er wütend, kaum dass er festen Boden unter den Füßen hatte. »Willst du im Ernst, dass sie uns kriegen?«
»Nein, natürlich nicht. Ich hatte eine Panikattacke. Nichts weiter. Ich bin nicht so ein Kletterer wie du.« David klang, als würde er gleich losheulen.
»Ist ja gut, Mann. Tut mir leid«, sagte Eddie und schluckte seinen Ärger hinunter. »Schau, die Mauer dort drüben ist viel niedriger als diese hier. Das einzige Problem ist der Stacheldraht, aber der tut nur weh, sonst muss man keine Angst haben.«
»Und dann?«, fragte David und betrachtete die Mauer dahinter, die äußere der beiden Gefängnismauern. Die war höher als die erste; höher auch als die, die er gerade überwunden hatte.
»Wir werden Strickleitern haben. Das habe ich dir doch gesagt. Aber wir müssen um zwölf dort sein«, sagte Eddie und warf einen besorgten Blick auf seine Armbanduhr. »Das ist der Zeitpunkt, an dem sie sie rüberwerfen wollten, und lange können die ja nicht hängen, sonst sieht das jemand. Also los, gehen wir!«
»Und was ist damit?«, fragte David und tippte an das Seil, an dem sie sich gerade heruntergelassen hatten.
»Das muss wohl hängenbleiben. Ich weiß. Aber was bleibt uns anderes übrig? Mit ein bisschen Glück sind wir längst draußen, wenn es jemand entdeckt.«
Und so ließen sie das Seil aus Abdecktüchern hinter sich am Dach hängen und schlichen sich an der Wand entlang auf die andere Seite des Hofes, blieben dabei im Schatten der Gebäude und gingen tiefgebückt, ja fast auf allen vieren, wenn erleuchtete Fenster zu passieren waren. Eines stand sogar offen, und sie konnten drinnen Gelächter hören, aber irgendwie schafften sie es, unbemerkt vorbeizukommen und schließlich das offene Gelände vor der Mauer zu überqueren, die sie zu überwinden hatten. Eddie liefein Stück an ihr entlang, um eine Stelle zu finden, an der sie nicht so leicht zu sehen waren. Als er eine gefunden hatte, kletterte er auf Davids Schultern und hob den Drehstuhl über den Kopf. David hielt das Seil fest, an das der Stuhl gebunden war. Eddie machte ein paar Probeschwünge und schleuderte ihn über den Stacheldraht auf der Mauer. Der Aufschlag auf der anderen Seite war lauter als erwartet, und für einen Moment erstarrten sie. Doch nichts rührte sich, und Eddie sprang wieder auf die Erde.
»Also dann: beten«, flüsterte Eddie, als er David das Seil aus den Händen nahm und daran zog.
Am oberen Ende der Mauer drehte sich der Sthl und verfing sich im Stacheldraht. Eddie ballte triumphierend die Faust. Noch immer schien keine Menschenseele etwas bemerkt zu haben.
»Also. Ich geh zuerst und leg das hier über den Draht. Dann kommst du leichter drüber«, flüsterte er und deutete auf die gefaltete Turnmatte unter seinem Hemd. »Mach dir keine Sorgen, ja? Tu einfach, was ich sage, und alles wird gut.«
Ob es an Eddies aufmunternden Worten lag, für die er unglaublich dankbar war, oder einfach nur daran, dass ihm das Aufsteigen viel leichter fiel als das Absteigen – jedenfalls gelangte David ohne Probleme die Mauer hinauf. Und jetzt war es gut, dass der Mond schien, denn so war es einfacher, oben sicher zu stehen, bis Eddie das Seil auf der anderen Seite wieder hinabgelassen hatte. Als David den Abstieg begann, bohrte sich der Stacheldraht durch Hemd, Hose und Haut, doch er spürte den Schmerz kaum, weil er voll darauf konzentriert war, sicher nach unten zu gelangen.
Und als er dann am Fuß der Mauer stand, spürte er, wie sich in seiner Brust plötzlich wieder ein Gefühl der Hoffnung breitmachte. Das Gefängnis war hinter ihm und nicht mehr zu sehen, und sie waren der Freiheit jetzt so nah, dass er das Gefühl hatte, er könne fast schon die Hand nach ihr ausstrecken. In seinem ganzen Leben hatte David noch nie so viele
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