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Der König der Diamanten

Der König der Diamanten

Titel: Der König der Diamanten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Tolkien
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hartnäckig ignoriert.
    »Was ist denn?«, gähnte er, ohne ganz aus seinem Traum erwacht zu sein – einem bösen Traum, den er schon mehrmals gehabt hatte: Unförmige Schatten kamen am Rand einer Klippe auf ihn zu, und es gab nichts, wo er hätte Schutz suchen können. Seinen Dünkirchen-Traum nannte er ihn im Gedenken an 1940, als die Welt in Flammen stand. Wer wusste schon, ob so etwas sich nicht wiederholen würde?
    »Tut mir leid, wenn ich Sie geweckt habe, Sir«, sagte eine junge, energische Stimme am anderen Ende der Leitung. »Wir haben einen Mord: junge Frau mit Kopfschuss. In Blackwater Hall. Außerhalb von Blackwater, diesem Dorf an der Landstraße nach London.«
    »Blackwater Hall«, wiederholte Trave, auf einmal vollkommen munter.
    »Ja genau. Soll ich Ihnen sagen, wie Sie hinkommen?«
    »Nein, ich weiß, wo Blackwater Hall ist. Und Sie geben bitte Adam Clayton Bescheid. Er soll auch hinkommen.«
    »Der ist schon unterwegs, Sir. Er hatte Dienst, als der Anruf kam.«
    »Gut. Danke«, sagte Trave und hängte den Hörer ein.
    Mord in Blackwater Hall
. Diese Worte hörte er nicht zum ersten Mal.
Und ohne Grund geschehen am selben Ort nicht zwei Morde hintereinander
, überlegte er, während er sich anzog, sich einen extrastarken Kaffee aufbrühte, diesen in wenigen Schlucken hinunterstürzte und in die Nacht hinaustrat.
    Während Trave zügig die leeren Straßen der Stadt entlangfuhr und schließlich die offene Landstraße erreichte, schossen ihm Erinnerungendurch den Kopf – Erinnerungen an Menschen und Ereignisse, die er längst hinter sich lassen wollte. Bilder aus der Vergangenheit tauchten nacheinander vor seinem geistigen Auge auf, als eine Art Gespenster-Reigen. Wie Ethan Mendel tot dalag, die dunklen Haare und die ausgestreckten Arme vom leise dümpelnden Wasser des Sees umspült. Wie David Swains ausgemergeltes Gesicht noch mehr in sich zusammenfiel, als der Sprecher der Geschworenen den Schuldspruch verkündete. Wie arrogant Titus Osmans Augen über seinem geschniegelten Bart hervorblitzten, als er bei der Party nach der Verhandlung seine Gäste unterhielt und Vanessa zu seiner Linken seinen Aufschneidereien mit höchster Konzentration lauschte.
    Warum hatte er Vanessa an dem Abend nur mitnehmen müssen? Zum tausendsten Mal stellte Trave sich diese überflüssige Frage. Überflüssig, weil er die Antwort wusste. Er hatte nicht hingewollt. Der Mendel-Fall hatte in ihm ein eigenartiges Gefühl der Unzufriedenheit hinterlassen, offensichtlich ganz im Gegensatz zu den Geschworenen, die nicht einmal zwei Stunden gebraucht hatten, um ihr Urteil zu fällen. Aber Creswell, sein Vorgesetzter, hatte darauf bestanden, und so hatte Trave Vanessa mit nach Blackwater Hall genommen, weil er nicht allein gehen wollte und sich ohnehin dafür verantwortlich fühlte, dass sie nie ausging. Und dafür, dass er nicht fähig gewesen war, ihr während der langen, furchtbaren Monate und Jahre nach dem Tod ihres Sohnes beizustehen. Trave hatte seine Arbeit gehabt, in die er sich stürzen konnte, aber sie hatte einfach nichts Vergleichbares. Nur ihn. Er war allerdings nicht nur keine Hilfe gewesen, sondern hatte alles sogar noch schlimmer gemacht. Wortlos hatten sie beide getrauert, jeder für sich, und waren sich aus dem Weg gegangen in den Gängen und Türrahmen ihres leeren Hauses, bis ihre Ehe abgestorben war. Ohne einen Schrei; nicht einmal mit einem Winseln. In kaltem, trägen Schweigen.
    Zwischen ihm und Vanessa war es aus gewesen, lange bevor ersie an jenem Abend mit zu Osman genommen hatte, um einen weiteren erfolgreich abgeschlossenen Fall zu feiern. Das wurde ihm jetzt klar. Und doch war sie ihm damals so zart vorgekommen, so zerbrechlich, in ihrem weißen Kleid, das sie seit Jahren nicht mehr angehabt hatte. Ihm fiel ein, wie sie vor dem Weggehen im Schlafzimmer gelacht hatte und sagte, Abnehmen habe ja durchaus auch Vorteile. Und ihm fiel ein, wie sie den Kopf senkte, damit er die Kette aus falschen Perlen zumachen konnte, die er ihr zwanzig Jahre vorher geschenkt hatte, kurz nach der Geburt von Joe. Dass anstelle seiner Hände jetzt die von Osman ihren Hals berührten, diesem Osman, der für eine Perlenkette mehr ausgeben konnte als Trave in einem ganzen Jahr verdiente – Trave schüttelte sich und trat auf die Bremse, um nicht in die Polizeiautos hineinzufahren, die mit Blaulicht vor ihm am Straßenrand aufgereiht standen. Sie durchsuchen wahrscheinlich den Wald, dachte er, als er das Tor zum Anwesen

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